Название | Aufgreifen, begreifen, angreifen |
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Автор произведения | Rudolf Walther |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783941895508 |
Anmerkungen
1 Johann Caspar Bluntschli: Art. Nation und Volk, Nationalitätenprinzip, Deutsches Staatswörterbuch, hg. v. J. C. Bluntschli u. K. L. T. Brater, Bd. 7 (Stuttgart, Leipzig 1862), 159.
2 F. J. Stahl: Die Philosophie des Rechts (1830/37), 3. Aufl., Bd. 2/2 (Heidelberg 1856), 156.
3 F. L. Jahn: Runenblätter (1814), Werke, hg. v. C. Euler, Bd. 1 (Hof 1883), 418.
4 Am Begriff »Volk« ist der Bruch, den die Französische Revolution darstellt, exemplarisch nachvollziehbar. Die demokratischen Konnotationen des Begriffs »Volk« treten erst nach 1789 in den Vordergrund; vgl. J .u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12/1 (1951), 468: »Infolge der hier notwendigerweise entstehenden Kämpfe erhielt ›Volk‹ den Klang eines politischen Parteiworts; es umschloss gewissermaßen die Forderung der Demokratie, die Vertreter einer starken Monarchie liebten es nicht und verwandten für die Gesamtheit der Staatsbürger lieber das Wort ›Nation‹, während ›Volk‹ für die Opposition einen berauschenden Klang hatte.« In den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen dagegen hat »populus/Volk« ständisch-rechtliche Konnotationen und meint immer eine privilegierte Minderheit im Gegensatz zum sozial-schichtenspezifischen Begriff »vulgus/Pöbel«, womit der rechtlich benachteiligte bzw. rechtlose »große Haufe« oder der »gemeine Mann« bezeichnet wird. Die Diagnose bei Grimm erweist im Übrigen alle älteren, neuerdings wieder modischen Versuche, Nation, Nationalstaat und Nationalismus genuine und dauerhafte Verbindungen zu Demokratie und Demokratisierung anzudichten, als anachronistisch und spekulativ.
5 Interview, Frankfurter Run dschau vom 12.9.1992.
6 K. Schilling: Ist das Königreich Jugoslawien mit dem früheren Serbien völkerrechtlich identisch? Iur. Diss., Berlin/Dresden 1939, 167.
7 J. G. Reißmüller, FAZ vom 2.7.1993.
8 R. Bubner: Staat und Weltstaat, NZZ vom 5.7.1991. – Bei der Beschäftigung mit Nation schleudern auch luzidere Köpfe aus der Kurve. Christian Meier gab zu Protokoll (NZZ vom 30.7.1993): »Ich persönlich kann ohne Nation ganz gut auskommen, doch ich denke, dass es gut wäre, wenn auch die Deutschen eine möglichst normale Nation sein (oder werden) könnten.« Und direkt daran anschließend stellt der Historiker fest: »Die ganze Welt besteht ja aus Nationen.« Das stimmt natürlich wörtlich nicht einmal für die letzten 200 Jahre. Irgendwie scheint Meier geahnt zu haben, dass er sich auf glatter Bahn bewegt, schwankt er doch erheblich: Was er selbst »nicht braucht«, doch anderen andient, und was im zweiten Satz angeblich weltweit »besteht«, »könnte« im ersten noch »sein (oder werden)«. Das Gerede über »Nationen« ist allein deshalb eine Zumutung, weil es einem mit so viel Konfusion präsentiert wird.
9 E. Renan an D. F. Strauß, 15.9.1871, abgedruckt in: D. de Rougemont, Europa, Vom Mythos zur Wirklichkeit, München 1962, 282.
10 Für die Rechtfertigung unentbehrlich sind dabei die reinen Gesinnungsbegriffe »Verantwortung« und »Verantwortungsethik«, vgl. den Text I, 1 im zweiten Band.
4 »Zivilisation« – ein Rettungsring mit Löchern
In Zeiten wachsender Ratlosigkeit haben alte Rezepte Konjunktur. Das muss nicht immer falsch sein. Manchmal ist es sogar nötig und hilfreich, an vergessene Ratschläge zu erinnern. In jüngster Zeit wird immer häufiger »die« Zivilisation, »unsere« Zivilisation oder gar »die westliche« Zivilisation ins Spiel gebracht, wenn massive Formen von Gewaltanwendung Gefühle von Rat- und Orientierungslosigkeit hervorrufen. Zunächst will man mit Hinweisen auf »Zivilisation« und »zivilisatorische Minimalstandards« erklären, worin die Abweichung vom »rechten Weg« besteht, und danach dienen die erhabenen Chiffren als Rettungsringe, um von der Realität mit ihrem ganzen Chaos und Elend wegzuschwimmen. Den vorläufigen Tiefpunkt erreichte die Debatte, als im Zuge des Golfkrieges einige Normen zu »westlichen« Werten fundamentalistisch aufgemotzt und deren rationale Kritik als »Antiamerikanismus« denunziert wurde – in der Tradition von McCarthy & Co. Weder zur Erklärung noch zum Wegschwimmen hat der Begriff »Zivilisation« je getaugt – und zwar aus sachlichen und begriffsgeschichtlichen Gründen.
Sachlich scheitert jede Berufung auf eine positiv verstandene Zivilisation daran, dass Zivilisation und Barbarei in jeder geschichtlichen Epoche auf historisch zu bestimmende Art zusammengehören. Noch jede bisherige zivilisatorische Stufe hat ihren barbarischen Hinterhof und ist ohne diesen nicht zu begreifen. Vielleicht käme heute sogar Hermann Lübbe ins Stottern, wenn er seinen gerade mal zehn Jahre alten Satz wiederholen müsste: »Die Durchsetzungskraft unserer durch Wissenschaft und Technik geprägten Zivilisation beruht in letzter Instanz auf der Evidenz der Zustimmungsfähigkeit, ja Zustimmungspflichtigkeit der Lebensvorzüge, die, zunächst als Verheißung und schließlich als Realität, von Anfang an mit den Fortschritten dieser Zivilisation sich verband.« Wer sich am vermeintlich oder tatsächlich Positiven »der« Zivilisation festhalten will, um sich und andere aus den chaotischen und barbarischen Verhältnissen heraus ans sichere Ufer zu retten, vergisst, woraus das vermeintlich Rettende auch besteht – aus demselben gesellschaftlichen Stoff. Indem wir »unsere« zivilisatorischen Standards hochhalten, sichern wir (vielleicht) unsere Sicherheit, unser Leben und unser Überleben. Niemand wird behaupten, dass wir die Kosten dafür heute vollständig entrichteten oder je entrichtet hätten. Die ungedeckten Kosten zur Aufrechterhaltung »unserer« zivilisatorischen Standards verlängern alte barbarische Zustände oder lassen neue entstehen – hier und anderswo. Man kann das – ohne ins Detail zu gehen – an der alten europäischen Kolonialgeschichte (oder an neudeutscher »Standortpolitik«) nachvollziehen. Die Auswirkungen der ungeheuren zivilisatorischen Fortschritte des englischen Mutterlandes zur Zeit der ersten industriellen Revolution waren und sind in Indien zu besichtigen. Noch jeder bisherige zivilisatorische Fortschritt glich »jenem scheußlichen heidnischen Götzen, ... der den Nektar nur aus den Gehirnschalen Erschlagener trinken wollte« (Karl Marx).
Der Verlust von »zivilisatorischen Standards« wird in jüngster Zeit auf drei Ebenen als Ursache diskutiert: hinsichtlich der grausamen Kriege und Bürgerkriege auf der ganzen Welt und der schon alltäglichen Brutalität in den Armenhäusern auf der südlichen Hemisphäre, vor allem aber im Falle des erbarmungslosen Bürgerkriegs auf dem Balkan; in Bezug auf Verluderung, Verwahrlosung und Gewalt in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften des Nordens, wenn männliche Jugendliche gegenüber Fremden und Flüchtlingen scheinbar wahllos zuschlagen oder deren Häuser anzünden; und schließlich in einem ganz allgemeinen Sinne immer dann, wenn unfassbare Verbrechen bekannt werden.
Serben, Kroaten und bosnischen Muslimen vorzuwerfen, sie verrieten oder verleugneten in ihrer gegenseitigen Schlächterei – mit