Leipzig. Hartmut Zwahr

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Название Leipzig
Автор произведения Hartmut Zwahr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783867295680



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Irina, die sind Friedhelm erspart geblieben.

      Ich hab Bücher ausgeliehn.

      Die Jungsgruppe hättest du von mir haben können, Friedhelm.

      Die hätten sich das Rauchen abgeguckt bei mir.

      In solche Heimlichkeiten bin ich nicht eingedrungen. Sechzehn Stunden Bahnfahrt. Wie die im Sturm die Plätze belegten. Mir hat das ein leichtes Gruseln erzeugt. Ob Rotation Dresden im Vorteil wäre. Ob man von den Doppelstockbetten runterfallen kann.

      Die Straßenbahn war weg. Warten wir eben. Bin mit ihnen durch dick und dünn bei den Schnitzeljagden. Die hatten sich vorgenommen, das weibliche Regiment zu brechen. Bald begrüßten sie mich mit Sympathiegeschrei.

      Ich sehe, ihr wollt euch nicht setzen, meinte Irina und lehnte sich an Friedhelm, da stimmen wir mal überein. Gerade sind wir Majakowski geworden, und du fängst mit dem Pionierlager an, Inka. Habe ich vollständig gestrichen. Ihr werdet blendende Muttis werden. Sobald ich im Beruf bin und verdiene, will ich Kinder, sagt Regina.

      Nie hätte ich gedacht, dass Jungs sich von mir so um den Finger wickeln lassen. Ich hatte einen Helfer in der Gruppe, der hieß Der wahre Mensch. Denkt an den tapferen Flieger, hab ich gesagt, wenn sie mal schlapp machten, was Wunder wirkte, draus vorgelesen hab ich auch.

      Friedhelm packte das schlanke Mädchen an der Gürtelschnalle, als wolle er es ausheben. Kenn ich alles, Inka, Schnitzeljagd, ich hätte Fahrtenmesser ausgeteilt. Schnitzeljagden hab ich gehasst, diese Kameradschaft auch.

      Irina sagte: Versteh ich, Friedhelm, Künstler empfinden eben anders, wenn ich an Hanno Buddenbrook denke und an Zschiedert. Die Gestalt des Künstlers im Erzählwerk Thomas Manns. Den Künstler friert, wenn er die Masse sieht. Ich meins nicht mal ironisch, ich verstehs sogar.

      Die Kameraden von der Spatzenelf, soll ich die vergessen? Sie haben sich nicht Majakowski genannt.

      Glaubst du, dass da keine Kameradschaft war, keine echte, Irina, das ist der Irrtum, dass sie unecht gewesen sein könnte. Die hätten nicht so verbissen gekämpft, nur war diese Kameradschaft nicht für mich gemacht.

      So hab ichs nicht gemeint.

      Ich dachte, du nimmst Anstoß, dass sie sich gleich einen Namen umgehangen haben. Dem Namen entkommen wir nicht.

      Ich glaube, die Bahn kommt.

      Wenn ich dran denke, wie unsre Straße das letzte halbe Jahrhundert geheißen hat. Meine Mutter betet die Namen her, jetzt heißen wir Thälmann. Mich werden die Kinder vergessen.

      Regina erzählte von Mädchen, die Gedichte aufsagten, und jede fand, sie hätte das schönste ausgesucht, als sie auf der Bühne standen. Spreewald. »Heimat, wie bist du so schön.« Die Heimat besäuseln. Bei Lampenfieber auf erleuchteter Bühne gings schief. Vierter Platz.

      Sie stiegen ein. Über die aufdringlichen Männer im Blauhemd haben wir viel geredet, solche wie dich, die einen schnell mal umfassen. Friedhelm protestierte.

      Hugo, gibt’s den noch? Wie der im Auwald zu Petrus kommt. Du warst einzig, Friedhelm, das sagt dir eine deiner heftigsten Kritikerinnen. Also gut, nochmal, weil Johannes nicht dabei war: Hugo klopft an die Himmelspforte, bekommt Einlass. Die Voraussetzung für die nächste Ausbildungsstufe wäre erfüllt, meint er, bloß die rote Unterschrift stört auf dem Zeugnis? Schwarz wäre ihm lieber. Dass auf der Erde einer mit Rotstift unterschreibe, hätte er noch nie gehört. Oh, doch, sagt Hugo, seit Juni hat sich die Zeit verändert.

      Soll ich lachen?

      Die Version kannte ich noch nicht.

      Die Schule, natürlich unsre, ist nur Vorstufe. Die wirkliche Schule der Kader bringt die lebendige Arbeit, die Überwindung von Schwierigkeiten. Steht drin. Auf Baby-Rosa. Ihr wisst von wem der Spruch ist?

      Gewusst oder geraten? Natürlich geraten, sagte Irina.

      Die Straßenbahn war aus dem Auwald heraus. Die Leute guckten, warum so gelacht wurde. Wenn das Brimborium versunken sein wird, von dem wir erzählen, werden die sagen, die das als Kinder erlebt haben: Wunderbar! Wars ja auch. Ich geb dich doch richtig wieder, Inka? Sechzehn Stunden Bahnfahrt, Balgen, Kichern, die Gedichte, du im Tor. Erst haben sie mitgepfiffen, dann gesungen. So ist das. Ich muss raus. Friedhelm stieg aus.

      Warum singen wir? Hat Harry zugehört? Wir sind Schulgespräch. Die wissen sowieso, wie sie mich einzuschätzen haben. Johannes meinte Pockrandt und Rudi.

      Am Lindenauer Markt stieg er aus. Wir ziehn die Fühler ein, hatte Friedhelm gesagt, und weil wir uns anpassen, erscheinen wir als Kollektiv. Bloß dem Harry genügt der Schein nicht.

      Mir genügt er, sagte Friedhelm, als er am Tag drauf eintrudelte, die Hand in der Hosentasche, und das Jackett über die Lehne hing.

      9

      Steht unter einem unglücklichen Stern, deine Liebesgeschichte

      Die Klasse stellte sich auf. Harry: Wir wollen singen. »Des Morgens wenn die Hähne krähn.« Waltraud Arlt, die Augen niedergeschlagen, stand da und dachte vielleicht: Von dem hab ich mich küssen lassen.

      Hähne krähen wenigstens, sagte Harry, nachdem alle standen. Wenn man vor Beginn des Unterrichts die Freunde beobachtet, sträuben sich selbst dem Hahn sämtliche Federn.

      Ich denke, es soll ein Lied gesungen werden.

      Sind wir Pioniere, rief Gertraude von hinten.

      Ihr seid FDJ-ler! Harry gab den Einsatz.

      Mitgesungen hat Gertraude nicht.

      Ich frage dich, was ist in den gefahren? Da war dann wieder Pause. Matters Stellungnahme hing am blauen Brett. »Wird ein Lied angestimmt, gefällt das einigen Freunden nicht, ja, sie müssen erst persönlich aufgefordert werden, sich zu erheben. Stehen sie endlich und das Lied beginnt, nun, so sind diejenigen nicht etwa schweigsam – beim Singen geht das schlecht – sie singen aber auch nicht; es gibt so viel zu erzählen, daß Singen Zeitvergeudung wäre.«

      Gestern Umbenennung, heute Sangeskritik, erklärt mir das, sagte Irina leise, er denkt vielleicht, dass er mehr hervortreten muss, weil er nicht in der Partei ist, und arbeitet so was aus. Zufall kanns nicht sein. Sie las weiter:

      »Und Freunde, habt Ihr schon einmal vorn gestanden und die Gesichter beim Singen gesehen? Das solltet Ihr mal tun. Die Augen sind noch verschleiert, ebenso die Kehle der wenigen, die noch mitsingen. Ölig und zäh kommen Worte und Melodien hervor geflossen. Ich bekomme jeden Morgen Angst, daß Ihr daran ersticken werdet. Freunde, es kommt darauf an zu singen, nicht schön, sondern kräftig, frei und fröhlich. Da gibt es keine Entschuldigung für Stumme. Jeder soll singen – jeder kann singen. Mit Freude und Lust geht alles. Wir sind keine Greise und müssen uns der fehlenden Zähne schämen. Es soll kein kunstvoller Kanon werden, aber die Freude am neuen Tag, die Freude am Leben, die Freude unserer Jugend soll morgendlich aus den Liedern erklingen. Dem bisherigen Gesang nach zu urteilen, müßten wir alle schon an Stöcken gehen, und vorbeigehende Straßenpassanten vermuten ein Altersheim, aber keine Schule, wo 90 Prozent unter 25 Jahre alt sind. Warum sollen wir nicht so singen können, wie es andere Klassen tun?

      Ich bitte Euch alle: beteiligt Euch am Morgenlied. Zeigt, daß wir keine versauerten Tröpfe sind. Wenn wir es schaffen, unseres Gesanges wegen von der Schulleitung Singeverbot zu bekommen, dann können wir sagen: wir haben gesungen. So aber bekommt man Mitleid mit Eurer Quälerei und den verhunzelten Liedern. Wir wollen das Lied nicht des Liedes wegen singen, sondern damit zum Ausdruck bringen, daß wir junge, fröhliche Menschen sind. Manchmal steigen mir Zweifel hoch. Also zeigt, was Ihr könnt. Lasst mich nicht immer allein singen. Singt und redet nicht und legt mehr Gefühl in die Melodie. Über Kunst beim Lied zu reden, erübrigt sich, denn die will niemand von Euch fordern. Leipzig, 16.9.53. Harry Matter«

      Singend in die neue Zeit zu gehen? Matter seine Idee war das nicht, meinte Friedhelm, das hat die Schule entschieden.

      Ruth war in Leipzig zur Prüfung, sagte Johannes.

      Bring sie mit, ich geh für dich zu Wolframs, darfst ihr bloß kein Kind machen.

      Sie