Fünfzehn Hunde. Andre Alexis

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Название Fünfzehn Hunde
Автор произведения Andre Alexis
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862871995



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sich besonders bei Prince. Er fand unaufhörlich Wörter in seinem Kopf, Wörter, die er mit den anderen teilte. Es war Prince, der sich das Wort für »Mensch« einfallen ließ (ungefähr: grrr- ahhi, der Knurrlaut, gefolgt von einem für Menschen typischen Geräusch). Dies war eine bedeutsame Fähigkeit, da die Hunde nun über die Primaten ohne Erwähnung ihrer Herrschaft sprechen konnten. Es war auch Prince, der ersann, was das erste Wortspiel der Hunde genannt werden könnte: das Wort für »bone« in der neuen Sprache (ungefähr: rrr- eye) und das Wort für »stone« (ungefähr: rrr- eeye) ähnelten sich sehr. Als Prince eines Abends gefragt wurde, was er aß, antwortete er »stone« und zeigte auf einen Knochen. Einige Hunde fanden das amüsant, aber auch zutreffend, denn die besagten Knochen waren schwer zu kauen.

      Sie wurden auch geschickte Jäger und anspruchsvolle Abfallsucher, als ihnen ihr Territorium vertrauter wurde: Parkdale und High Park, von der Bloor Street bis zum See, von Windemere bis Strachan. Alle lernten schnell die Orte, wo sie zusammenkommen konnten, ohne allzu viel Aufmerksamkeit von Menschen oder Hunden auf sich zu ziehen. Außerdem lernten sie, angespornt durch die Beobachtungen des Sonnenlichts und der Schatten, die Prince anstellte, den Tag in nützliche Einheiten aufzuteilen. Das heißt, gemeinsam entdeckten sie die Zeit, die das quälende Bewusstsein ihres Vergehens milderte. (Der Tag, von Sonnenaufgang bis zum ersten Moment ihres Untergangs, wurde in acht ungleiche Einheiten geteilt, von denen jede einen Namen bekam. Die Nacht, wenn die Welt still zu werden begann, bis zum ersten Vogellärm, wurde in elf Einheiten geteilt. So bestand für die Hunde ihr Tag statt aus vierundzwanzig aus neunzehn Einheiten.)

      Es war zum Teil diese neue Beziehung zu Zeit und Ort, die die Einrichtung ihres Verstecks beeinflusste. Atticus, praktisch und überzeugend (obwohl er der neuen Sprache misstraute) schlug vor, sich in ein Stück Wald im High Park zurückzuziehen, eine Lichtung unter einer Anhäufung immergrüner Bäume. Dorthin brachten sie Tennisbälle, Laufschuhe, Kleidung, Decken, Quietsch­spielzeug … alles, was sie finden oder stehlen konnten, um den Ort behaglicher zu machen. Sie hatten nicht vor, für immer in diesem Waldstück zu bleiben. Es sei, sagte Atticus, behelfsmäßig und vorläufig, ein Ort, um sich nach Einbruch der Dunkelheit zu treffen, aber bald hatten sie das Gefühl, als wäre dort ihr Zuhause. Es roch nach Kiefernharz, Hund und Urin.

      Doch das wohl auffälligste Indiz, dass das »Primatendenken« nützlich war, zeigte sich in der Beziehung zwischen Bella und Athena. Die zwei waren völlig unterschiedlich, was Gewicht und Höhe betraf. Sie hatten das gleiche Alter – drei Jahre –, aber Athena brachte kaum vier Pfund auf die Waage, und ihre Beine waren kurz. Sie konnte nicht mithalten, wenn das Rudel losrannte. Bella war über einen Meter groß und wog etwa zweihundert Pfund. Sie lief nicht viel. Vielmehr bewegte sich Bella, auch wenn sie nicht die nachdenklichste war, majestätisch, mit Bedacht. Als sie sah, dass Athena nicht mit den anderen mithalten konnte, und sie sich daran erinnerte, wie ein vierjähriges Mädchen auf ihr geritten war, ließ Bella es zu, dass Athena auf ihrem Rücken saß.

      Für Bella war das kein Problem. Sie kniete mit den Vorderbeinen nieder und wartete, bis der Pudel hinaufgeklettert war. Anfangs fiel Athena fast immer sofort wieder herunter, und es tat ihr weh. Doch sie lernte schnell. Nach dem dritten Tag, ihre Krallen benutzend und in Bellas Nacken beißend, um Halt zu finden, befand sich Athena so im Gleichgewicht, dass es schwer gewesen wäre, sie abzuschütteln. Sie bildeten einen seltsamen Anblick. Bella fühlte sich nach einigen Tagen sicher genug, um leicht trabend und arrythmisch zu rennen, wenn sie es wollte. Ihr Widerrist senkte und hob sich, während Athena wie ein Passagier auf dem Vorderdeck eines Schiffes fröhlich auf ihrem Platz ausharrte.

      So aufregend das für die beiden auch war – sie fühlten sich bald wie Geschwister – sorgte das Arrangement für das Rudel Ärger. Athena und Bella verursachten ungewollte Aufmerksamkeit. Eines Tages, als die Hunde am Seeufer nach Essbarem suchten, bemerkte eine Gruppe männlicher Jugendlicher Athena auf dem Rücken von Bella. Zuerst amüsiert und dann feixend, begannen sie, den Hunden hinterherzulaufen. Nicht vertraut damit, wie fremd Menschen sind, konnten Bella und Athena den Übermut der Jugendlichen nicht von Aggression oder Abneigung unterscheiden. Die Jungen nahmen Steine und warfen sie auf die Hunde. Bella war nicht schnell, und sie konnte keine lange Strecken laufen, ohne eine Pause zu machen. Nach einer Weile wurde sie langsamer, und ein Stein traf Athena, die vor Schmerz jaulte und von Bellas Rücken fiel. Athenas Unglück und Schmerz rief bei den Menschen noch größere Belustigung hervor. Sie sammelten mehr Steine in der Absicht, den Hunden so viel Leid zuzufügen, wie sie konnten.

      Auch wenn Bella von Natur aus ausgeglichen und nur schwer zu reizen war, war sie, als die jungen Männer näherkamen, um Athena besorgt und bereit zu töten. Als einzige List kam ihr in den Sinn, zuerst den größten der Angreifer auszuschalten, und so lief sie knurrend und unbeirrt auf die Gruppe zu. Sie stürzte sich auf den Anführer, bevor er oder einer der anderen reagieren oder wegrennen konnte. Ihre zweihundert Pfund auf ihn werfend, schnappte sie instinktiv nach seiner Kehle und hätte ihm den Hals durchgebissen, hätte er nicht im letzten Moment seinen Arm gehoben. So biss sie tief in seine rechte Hand bis auf den Knochen. Blut spritzte, als er unter ihr aufschrie. Die anderen, obwohl sie mit Steinen bewaffnet waren, sahen wie gelähmt zu. Sie standen bewegungslos und hörten ihren Freund um Hilfe schreien. Ihre Angst gab Bella einen Vorsprung. Sie ließ von dem Jungen ab und rannte direkt zu dem, der ihr am nächsten stand. Schreiend lief er davon und überließ seine Freunde ihrem Schicksal.

      Atticus und Majnoun, die in der Nähe nach Nahrung gesucht hatten und durch den Tumult herbeigelockt worden waren, knurrten die Menschen an, rannten hinter ihnen her und sorgten dafür, dass sie nicht zurückkehrten. Nichts aber lag den Menschen ferner. Mit anderen Worten: Ihre Niederlage war schnell und gründlich. Die sechs oder sieben Jungen, keiner von ihnen älter als vierzehn, waren erniedrigt und traumatisiert. Aber als die Hunde sahen, dass Athena nicht schlimm verletzt war – sie hatte geblutet, und über ihrem Auge klebte ein Büschel nasses Fell –, sagte Majnoun:

      Das ist nicht gut. Menschen mögen es nicht, wenn man sie beißt. Wir werden unser Revier wechseln müssen.

      Ich stimme zu, sagte Atticus, aber warum sollten wir weggehen? Man wird nach diesen beiden hier suchen. Die Hündinnen dürfen sich vorerst nicht sehen lassen. Die große hat den Schaden angerichtet. Hinter ihr werden sie her sein, nicht hinter uns.

      Ich stimme nicht zu, und ich widerspreche auch nicht, sagte Majnoun.

      Aber die Hunde trafen Vorkehrungen. Bella und Athe­na suchten nur noch im High Park nach Essbarem und blieben in der Nähe des Waldstücks. Vom Seeufer hielten sie sich fern, und Athena ritt erst nach Einbruch der Dunkelheit, wenn Schatten sie verbargen, auf Bellas Rücken. Die anderen streiften in kleinen Gruppen umher, nie mehr als zwei oder drei zusammen, und zogen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich.

      Diese Vorsichtsmaßnahmen richteten sich gegen die Menschen. Nicht dass sie zwangsläufig gefährlich waren, aber sie waren unberechenbar. Während der eine sich niederknien mochte, um deinen Rücken zu tätscheln oder dich am Hals zu kraulen, trat dich ein anderer, der genauso aussah wie der erste, warf Steine oder brachte dich sogar um. Im Allgemeinen war es das Beste, Menschen aus dem Weg zu gehen. Entgegen den Erwartungen ereigneten sich in den ersten Wochen nach ihrer Veränderung die schlimmsten Konfrontationen nicht mit Menschen, sondern mit anderen Hunden. Egal, wie höflich oder zurückhaltend das Rudel sich verhielt, manche Hunde griffen sie sofort an, ohne vorher zu knurren oder die Zähne zu fletschen.

      Sie glauben, dass wir schwach sind, sagte Atticus.

      Aber so einfach war es nicht. Die Hunde, die sie angriffen, waren aggressiv, aber sie schienen auch Angst zu haben. Sie fürchteten nicht nur die größeren Hunde, Bella oder Atticus, Frick oder Frack. Sie waren auch eingeschüchtert von Dougie, Benjy, Bobbie und Athena, von denen für ein halbwegs großes Lebewesen keiner bedrohlich hätte sein sollen. Die Hunde, die sie nicht auf der Stelle angriffen, verhielten sich manchmal sofort unterwürfig, und das war fast genauso seltsam. Den kleineren Hunden kam es so vor, als ob sie irrtümlich für wilde und übergroße Versionen ihrer selbst gehalten würden.

      Die zwölf Hunde reagierten unterschiedlich auf ihren veränderten Status. Atticus fand die Situation unerträglich. Es war traumatisch, von sich selbst zu wissen, dass man ein einfacher Hund ist, aber in einer Welt lebt, in der andere Hunde einen als etwas anderes