Название | Spiegelungen |
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Автор произведения | Anne Dorn |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783943941265 |
Minzas Zopfspangen liegen im Schlafzimmer der Großeltern, Martin reicht ein Schnurrbart aus Sahne von der Nase bis zum rechten Ohr, seine Hände sind rot gefärbt und krümelig. Die Mutter schert weder Dreck noch Unordnung. Minza möchte weinen, nicht, weil es so schön gewesen wäre, da oben. Nichts ist schön, wenn die Mutter versteint. Warum nur geschieht das?
Die Straßenbahn kommt. Der Vater stürmt durch das Pförtchen, welches das Grundstück der Eisenbahnermietskaserne verschließt. Er ruft über die Straße: »Du hast doch gar keine Fahrkarte, warte doch«, atemlos erreicht er noch die Bahn. Die Mutter tut so, als sei ihr das gleichgültig, ohne Fahrkarte, mit Fahrkarte. Auf dem Bahnhof versucht der Vater, dem kleinen Bruder mit dem Zipfel eines bespuckten Taschentuches die Sahne aus dem Gesicht zu wischen. Minzas Hand ruht in Mutters Hand, eisenfest umschlossen. Minza hätte jetzt gern einen Sahneschnurrbart, damit der Vater auf sie zukäme, aber sie bleibt an die Mutter gekettet. Die packt auch Martin wieder, läuft festen Trittes mit den zweien auf und ab, auf und ab. In der Ferne entdeckt Minza den Zug, sie sieht den weißen Dampf über der Lokomotive.
Auch die Mutter beobachtet das Herannahen des eisernen Ungetüms. Grausig fest zerrt sie an Minzas Hand, Martins Füße verhaspeln sich – in weitem Bogen schwingt die Mutter ihre Kinder der Lokomotive zu, den Rädern mit den Pleuelstangen. Minza lässt sich fallen, der Vater fällt über die Mutter her. Er packt sie am Kragen und reißt sie zurück. Und wieder erlischt das Wilde, der rasende Eifer, das Grausige. Die Mutter kauert auf dem Bahnsteig. Viele Menschen sehen zu, wie der Vater sich über die Mutter beugt, sehen, wie Minza ihr Handgelenk reibt und Obacht gibt, ob die Mutter sich regt, und den kleinen Bruder, dessen tränenüberströmtes Gesicht. Der Schaffner schaut sehr genau zu – und ruft schließlich: »Alle einsteigen!« Auch die Mutter gehorcht. Die Familie steigt in ein 3.-Klasse-Abteil des Waggons für Reisende mit Traglasten. Den benutzen nur Menschen, die mit sich selbst genug zu tun haben, Körbe schleppen, kleine Handwagen sogar. Alle sind still, nur Martin wimmert. Minza spielt am Volant ihres neuen Kleides. Warum hat es die Mutter genäht? Hatte sie sich doch gewünscht, dass die Hochzeit schön gewesen wäre?
Um diese Zeit fährt kein Bus von der Bahnstation nachhause. Gleich nach dem Aussteigen läuft die Mutter davon. Wie merkwürdig schaut das aus, wenn eine Frau in Pumps und Samtkleid durch den Wald eilt. Der Vater trägt den kleinen Bruder. Minza wundert sich: Was will die Mutter zu Hause? Warum rennt sie so? Und woher kommt das seltsame Gefühl, sie, Minza, sei an allem schuld? Immer wieder erinnert sie das Stückchen rote Seide auf den Fußbodenbrettern.
Die Mutter erreicht gerade eine Waldwiese. Sie hält einen Augenblick inne, schlägt ihre Hände an den Kopf, macht dann eine wegwerfende Geste: »Lüge, Betrug!« Das Echo schreit ihre Worte zurück. Wieder will die Mutter losrennen, aber sie knickt sich den Fuß, fällt fast und biegt einfach ab ins Gebüsch. Der Vater versteckt den kleinen Martin unter seinem Jackett, damit ihn die Ruten nicht wachpeitschen. Minza springt geduckt, lässt sich fallen, kriecht.
Da liegt die Mutter: Bäuchlings auf der Erde. Sie schluchzt. Der Vater nähert sich. Ohne sich umzudrehen, greift sie nach seinem Schlips, reißt ihm den vom Hals. Dann setzt sie sich auf, greift mit der gekrallten Hand zu, reißt ihm einen Knopf vom Jackett. Und jetzt flammen Worte aus ihrem Mund: »Du, du hast mit Melanie scharwenzelt, sie hat es mir gesagt!« Der Vater ist ganz ruhig: »Die arme Melanie hätte gern mal einen Freund.« Die Mutter kann sich im Gebüsch nicht aufrichten und stellt sich auf alle Viere. Dabei kommt sie dem Vater wieder näher: »Melanie ist treu, treu wie Gold, sie ist sich selber treu. Aber die Dora, die wäre etwas für dich! Ich habe es ja gesehen …!«, und jetzt geht die Stimme der Mutter in Schluchzen über. Lange bebt ihr Körper. Sie kniet sich hin, wischt mit den Händen übers Gesicht. Dann spricht sie leise, ganz leise. »Dora war mit diesem verheirateten Mann im Klo.« Der Vater wiegt ungläubig den Kopf. Freilich läuft über sein Gesicht ein Zucken, es kommt wie ein Anfall, er kann es nicht verhindern.
Minza möchte auch gern wegsehen und weghören, aber die Eltern sind direkt vor ihr. Die Mutter beugt sich vor, um dem Vater ins Gesicht zu sehen: »Du, du bist genau wie sie. Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich will nicht mehr leben! Ich will mich nicht belügen und betrügen lassen!« Jetzt kann Minza unmöglich fort. Ein Geheimnis wird aufgedeckt! Das Geheimnis, warum die Mutter Briefe aufschlitzt, Taschen umkrempelt, davonrennt. Denn der Vater schweigt. Immer noch ist ein Rest dieses Grinsens und Zuckens um seinen Mund. Die Mutter spuckt ihn an, ihre Spucke läuft an seinen Brillengläsern herab. Sie ist noch nicht fertig: »Du bist genauso ein Hund – du machst es wie sie!« Ja, oh Gott, es ist gesagt! Woher weiß es die Mutter? Minza hat es gewusst. Vor jedem Wochenende pflückt sie Feldblumensträuße, die verkauft dann der Vater für zehn Pfennige seinen Kollegen und Kolleginnen im Büro. Minza hat in der gesamten Umgebung Blumensammelplätze. Auch Straßengräben gehören dazu. Sie hat gesehen, wie der Vater sein Fahrrad schiebt, nebenherläuft, ganz blind ist – weil eine Frau mit ihm geht, langsam, ganz langsam, damit sie immer wieder Halt machen können und sich küssen.
Minza springt auf. Ungeachtet der Dornen und peitschenden Äste rennt sie, hastet allein den dämmrigen Waldweg entlang. Fort, weit, weit fort! Des Vaters Stimme durchforscht den Wald. »Minza! Minzaaaa! Warte doch, renn nicht davon!« Als kleines Echo die Stimme der Mutter: »Minza!« Alle, alle Menschen mögen rufen. Minza rennt. Nur das Rennen selbst ist Erlösung. Wenn sie nicht mehr rennen kann, wird sie stehen bleiben, und da werden Häuser sein oder zumindest Straßen mit Straßengräben –
3
Minza liebt Lukas. Aber Lukas liebt Minza unvergleichlich mehr. Wenn er sie sieht, bleibt er stehen. Ihm ist dann, als wolle sein Herz stehen bleiben. Es pocht aber und klopft. Lukas steht, nicht sein Herz. Seine Blicke umhüpfen Minza, er flieht mit seinen Augen aus seinem steifen, stummen Körper. So zärtlich strömt er in Minza ein, dass seine langen, knochigen Beine, seine gebräunten Arme und die Hände mit den schwarzen Fingernägeln und der Warze am linken Daumen gefügig beben.
Minza lacht. Sie hat gut lachen. Lieben und leben sind für sie ein und dasselbe. »Lukas, gehen wir jetzt in die Landwehr?«
Die Landwehr ist ein großer, alter Wald. Hat er sich der Bauern erwehrt, als sie kamen und Land brauchten? Oder ist er den Bauern ein Schutzwall gewesen, die Plünderer und Vagabunden abzuwehren, sobald das Land in Kriege verwickelt war?
Die Landwehr birgt große, hellgelbe Sandgruben. Lukas hat Minza gezeigt, wie man am oberen Rand der Grube ein Grasbüschel lostritt, das Gras mit beiden Händen packt, sich geschwind auf das kleine Polster setzt und dann die Beine in die Luft wirft, damit die Sturzfahrt hinab in den gelben Kessel durch nichts gemildert ein Stück Wildheit, Wildnis, Wagnis – ach – alles Außerordentliche eines ganzen Lebens in diese Augenblicke hineinreißt.
Minza lebt mit Leidenschaft. Sie fühlt den Sommertag auf ihren Lippen und in ihrem Haar und mit ihren Zehen auf dem blankgewetzten Leder ihrer Sandale. Lukas begleitet sie morgens zur Schule. Er wartet am Hausflurfenster auf der halben Treppe, tut so, als müsse er noch einmal zurück. Immer hat er Aufgaben: Das Kleinholz vom Schuppen zur Küche tragen, das Wasser von der Pumpe holen, Kartoffeln aus dem Keller. Lukas muss niemals Beschäftigungen erfinden, um so viel Zeit zu vertreiben, dass gerade dann die Haustür hinter ihm ins Schloss fällt, wenn Minzas Kleid durch den Zaun blinkt.
Er kann Schritt halten. Wenn die anderen Kinder, mit denen Minza bergan läuft, stehen bleiben oder losrennen oder plötzlich quer ins Feld und kurz darauf wieder auf den Weg laufen, hat Lukas die Möglichkeit, diesen schönen, freien, unwägbaren Raum zwischen Minza und sich selbst auszupendeln. Je näher sie der Schule kommen, um so mehr Raum gibt er den anderen, hinzutretenden Kindern.
Minza ist ein Engel. Sie schaut sich nicht nach Lukas um, geht geradeaus. Niemals würde sie Lukas’ Liebe verraten.
Er