Siehdichum. Anne Dorn

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Название Siehdichum
Автор произведения Anne Dorn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943941272



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weg sein. »Warum bin ich hier?« Jeder Ort ist falsch, wenn der Krampf einsetzt.

      Von Schmerz gequält, dessen Grund nicht zu sehen ist, sitzt sie und hält den Atem an: Wäre sie damals nicht vom Waggon gesprungen, wäre sie mutig gewesen und auf dem fahrenden Zug geblieben, wären ihr nicht vier Wirbelkörper gebrochen, hätten die alten Frakturen nicht angefangen zu wuchern, – es ist eine Kette von Unglück, das niemand auslöschen kann. Maschinengewehrfeuer! Der deutschen Bevölkerung war bei Strafe verboten, sich von Ort und Stelle fortzubewegen. Doch jeder suchte die seinen, wollte ›nach Hause‹, auch wenn es das nicht mehr gab. Der eine Stadtkommandant der Besatzungsmächte nahm die Anordnung locker, der andere sehr genau. Martha sprang bei der ersten Salve, die über die mit Menschen beladenen Güterwaggons strich, den anderen nach. Sie blieb auf der Böschung liegen. Das war in gewisser Weise ihr Glück. Die Wirbelbrüche verquollen rasch. Ein junger Körper hat Möglichkeiten für jede Not. Man lud sie später mit auf; sie erwachte im breiten Schutzblech eines amerikanischen Kettenfahrzeugs. Es war sternenklare Nacht, der Güterwaggon glitt unterm Augusthimmel dahin. Sie erinnert noch, dass sie fror. Hatte sie Schmerzen? Schrecken hält Schmerzen in Schach. Schmerzen waren im Jahr 1945 so allgemein, keiner konnte ihnen immerzu dienen. Und so rächen sie sich, kommen heute.

      Martha beginnt zu betteln: Lieber Gott – Auf der Erde zu liegen könnte ihr helfen, aber da müßte sie erst aus der Kirchenbank. Lieber Gott, – so versucht sie es, wenn der Schmerz ihr fast den Verstand nimmt. Noch kleinere Worte: Bitte, bitte –

      Irgendwann kommt der Augenblick, in den sich wieder Gedanken einschleichen. Sie sieht wieder die zu einer Art Leuchter gebündelten Glühbirnen vor dem Seitenaltar, riecht wieder den Moder, ganz wie im Wald. Sie hat auch das sichere Gefühl, dass noch andere Menschen in ihrer Nähe sind. Spürbare, warme Inseln. Mit ihrem Atem richtet sie ihren Oberkörper auf. Nein, es sitzt sonst niemand in den Kirchenbänken, aber da kniet wer und betet, ein Mann im ›Ulster‹. Ulster nannte der Großvater seinen Wintermantel. Jetzt, im Spätherbst, hätte er ihn aus dem Schrank geholt, es hätte nach Mottenkugeln gerochen.

      Der kniende Mann ist kein Großvater. Martha erkennt das an seiner straffen Haltung. Sie ist Zeugin, wie er da unbeirrt kniet.

      Martha ist nicht allein: Irgendwo hier, im Gemäuer, wird ein Steinkäuzchen sitzen und seine runden Augen auf und zuklappen. Vielleicht – jetzt – stößt es gleich seinen Lokomotivpfiff aus!

      Wie gut konnte Johannes den Steinkäuzchenruf imitieren! »Pass auf, einmal melden sich seine Jungen, dann musst du sie füttern.« »Geht es dir jetzt besser?« »Ich weiß nicht.« »Geh doch barfuß. Wie zimperlich du geworden bist! Deine ganze Tüchtigkeit mit deinen Filmen und dem Ausbaldowern, wohin das gehört, was du machst, – was hast du nun davon?« »Das verstehst du nicht, du hast dich ja verdrückt, irgendetwas Partnerähnliches braucht der Mensch.« »Und warum suchst du dann nach mir? Bestenfalls siehst du deine eigene Spur, wo du selber gelaufen bist.« »Ja, entschuldige. Aber jetzt bin ich hier. In dieser stockdunklen, modrigen, kalten Kirche, wo niemand uns beobachtet. Zugegeben ein bisschen spät …«

      Hier stockt Marthas Fantasie. Die Angst stopft ihr den Hals: Sie hat gerade ihren Bruder alt werden lassen! Dass er spricht und denkt, wie sie. Eben ist wer am Eingang gestolpert. Andere Leute sind in der Nähe, wenn auch kaum zu sehen. Sie bewegt ihre Zehen, danach schüttelt sie ihre Füße. Unbeabsichtigt und auch unbeobachtet weint sie eine Weile.

      Manchmal ging der Großvater, aus der Familie mit den zwei Sprachen, mit den Enkeln in die Katholische Hofkirche. Sachsens Könige waren, im Gegensatz zur sächsischen Bevölkerung, Katholiken, der polnischen Krone wegen. Die polnische Schlachta hatte den Wettinern die Krone angetragen, das löste keinen Krieg aus, nur einen Konfessionswechsel im Hause Wettin. Der evangelische Großvater ging mit den nichts von Glaubenskämpfen ahnenden Enkeln »ins Katholische«, um schöne Gewänder zu sehen. Der Geistliche und seine Meßdiener strömten singend, murmelnd, gestikulierend zwischen den Knieenden auf und ab, die Gänge, Kanälen gleich, ordneten ihre Bewegung. Die Kinder und auch der Großvater konnten voraussehen, wann das Glitzern nah vor ihre Augen kam – und sich wieder entfernte. Sie standen da, Hand in Hand, – die Hofkirche zu Dresden war hell, jeder war jedem im Auge.

      In Warschau war es Constanze, die ihre Mutter an der Schulter packte, drehte und schob: »Da, – die Johanneskirche.«

      Einige Stufen über dem Fußweg der Świętojańska schwingende Türen, Menschen jeden Alters, die wie Constanze und Martha im Kircheninneren verschwanden. Gotische Spitzbögen, der Mauergrund weiß, die roten Ziegel als Schmuck immer entlang der Bogenkanten, sonst nichts. Constanze hatte geschwärmt: »Großzügig, frei –«, um dann ganz still den auf deutsch verfaßten Zettel zu lesen: »Drei mal drangen die Deutschen mit Panzern in den Altarraum vor.«

      Als Constanzes Begeisterung so jäh abstürzte, hatte Martha sich gefragt: Warum mache ich diese Sache hier nicht allein? Was habe ich ihr erzählt? Oder gar versprochen? Sie hätte so gern betont, dass diese Sache im Jahr 1944 geschah. Leider aber, selbst wenn Constanze neben ihr geblieben wäre: Erklärung lehnte die Tochter ab. Da hatte ihr Vater zu widersprüchliche Dinge aufgetischt. Sie wartete auf der anderen Straßenseite: jung, blond, blauäugig, liebenswert. Martha ging noch in die Dziekania-Gasse. Dort besah sie sich das Stück Panzer-Raupenkette, das die Warschauer beim Wiederaufbau an dieser Seite in die Domwand eingemauert hatten.

      Bei allem »Da!« und »Hier!« vor weiteren Sehenswürdigkeiten bezeugte Martha sich selbst, dass eine Reichsarbeitsdiensteinheit keine Waffen hatte, Werkzeug der Arbeitsmänner war der Spaten. Und weiter hätte sie der Tochter gern noch geschildert, wie Johannes im Sommergewitter den Spaten aus dem Schuppen holt, um das bergab schiessende Wasser in Kanäle umzuleiten. Wie er da, triefend nass, schuftet, der rufenden Mutter zulacht und sich mit dem viel zu schweren Spaten den nackten, großen Zeh verletzt. Von Anfang an hatte er Narben. Er machte sich nichts daraus. Einmal, als er noch klein war, hat er mit einem zweizinkigen Hammer Marthas linke Augenbraue durchtrennt.

      Es sieht für sie jetzt so aus, als wäre sie auf dem Heimweg: karge Straßenbeleuchtung, wenige Menschen, in Sichtweite der Marktplatz, und es riecht nach Bratkartoffeln mit saueren Gurken, mit Pilzen oder Spiegelei.

      Sie lässt die Buchhandlung links liegen. Zwei Schritte weiter hängt, wieder am Eisenarm, ein Gasthausschild. Aus Blech ausgeschnitten, sitzen da Menschen an einem Tisch. Die Tür zum Lokal ist aus Eichenholz: Hinein! Aber leider alles besetzt. Tisch an Tisch, Mensch neben Mensch, Rauchschwaden über den Köpfen. Wie an einem Fahrkartenschalter sitzen zwei Halbuniformierte und mustern jeden, der reinkommt. »Nein, nein!« bedeuten sie ihr mit gut geschulten Händen. Daraus macht sie sich nichts, geht zur Garderobe, legt ihren Mantel auf den Tisch, dann auch noch einen ihrer zwei Stöcke. Der Mann an der Garderobe zuckt mit den Schultern, sucht Hilfe bei denen, die mit betresster Schirmmütze zustimmend nicken müssten. Was ihnen nicht einfällt! Martha hat sich ihren zweiten Stock schon wiedergenommen und geht in den Keller.

      Unten ist alles anders: Gleich kommen zwei Bedienungen, wollen helfen, die Jacke nehmen. In der Jacke steckt Marthas Geld. Beide Hände in den Jackentaschen, lächelt sie, bis die Frauen beiseitegehn. Den eigentlichen Gastraum verschließt ein Vorhang, allein für Martha rafft man ihn beiseite. »Mama, – hier sind wir richtig«, würde Constanze sagen. Es gibt hier rauchloses Feuer aus trockener Eiche im offenen Kamin. Martha bekommt einen Platz gegenüber, am großen Tisch, für sich allein. Fisch oder Hirsch? Sie wünscht sich Zander. Ganz leise Musik. Die Leute flüstern. Rechts vom Kamin geht es noch weiter abwärts, Nischen, mit Eichenholz vertäfelt. Und schon kommt Marthas Suppe: »Dziękuję!« Dankesehr, ja? Dankesehr, nein?

      Martha denkt an die polnischen Grafen, an den schönen Gutshof, wie sie da mit dem ›jungen Herrn‹ am See entlangritt und der Wallach sich sträubte, mit den Läufen ins Wasser zu gehen. Er warf sie ins Schilf. So hatte Roderich Grund, sie zu trösten. Es war ein heißer Sommer, sie waren auch oft im Wald. Einer der Knechte hieß Duszek. Er brachte die Pferde, den Wagen, die Fische, die Blumen, den Honig, das Holz –

      Am unteren Tisch rufen junge Männer immerzu »Duszek! Duszek!« Man feiert ihn.

      Es gibt noch einen besonderen Platz: Eine breite Bank, davor einen gut beleuchteten Tisch, und über den Menschen, die auf der Bank sitzen