Название | Leo&Ludwig |
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Автор произведения | Dominique Anne Schuetz |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783943941401 |
Als sie zurück in die Gaststube ging, war alles wie zuvor. Nur stritten sich die Kartenspieler inzwischen über die Auslegung der Spielregeln, der Wirt und der Schuster waren beim Thema Wannsee angelangt, wo die Villen bald zahlreicher waren als die Enten, die darauf herumschwammen, die Jungfer bestellte noch eine Tasse Tee. »Wahrscheenlich is es der Majen oder es sin die Jedärme«, flüsterte die Wirtin in Luises Richtung, während Zille seelenruhig in seiner Ecke hinter einem unschuldigen Tabakwölkchen saß.
Der Sommer kam, nicht so heiß wie der letzte. Luise hatte den Sohn des Industriellen längst in jene Winkel ihres Hirns gedrängt, wo sich Erinnerung und Vergessen übereinanderschoben, da war er plötzlich wieder im Nussbaum aufgetaucht. Und nur drei Wochen später hatte sich zwischen ihr und dem jungen Mann eine heftige Affäre entwickelt. Sie geriet in einen Strudel, aus dem sie sich nicht mehr zu befreien wusste, verhedderte sich in einem Abenteuer, von dem sie keine Ahnung hatte, wohin es führen würde. Der Boden war ihr unter den Füßen weggezogen worden, und nun schwebte sie über einem schrecklichen Abgrund, in den sie zu stürzen drohte. Sie konnte sich selbst nicht erklären, wie sie in diese Situation geraten war. Immerzu hatte sie geglaubt, dass sie ihre Gefühle lenken könne. Nichts war für sie leichter gewesen, als den zahlreichen Annäherungsversuchen der jungen Spunde und älteren Herren zu widerstehen, sie suchte keine belanglosen Liebesepisoden, die sich aneinanderreihten wie die Tage eines Monats. Sie hatte immer geglaubt, sie würde den Richtigen erkennen, wenn er vor ihr stehen würde. Nun war alles anders gekommen. Dieser Mann war nicht der Richtige. Sie wusste es, und doch lieferte sie sich ihm aus. Er hatte sie aufgeweckt, und all die Jahre, die sie in einem künstlichen Koma verbracht hatte, frei von Liebe und Zärtlichkeit, waren nur noch ein unbedeutendes Stück Vergangenheit. In seiner Nähe spürte sie den Pulsschlag des Lebens. Sie genoss seine Leidenschaft, seinen Duft, seine Worte, die er ihr ins Ohr flüsterte, und sie sehnte sich nach seinen starken Händen, die ihren Körper erkundeten. Er war ein Meister der Verführung, aber in seinem Leben existierte nur er selbst. Sie spürte das, und doch konnte sie sich ihm nicht entziehen. Niemand konnte das.
Luise befand sich in einem Zustand der Schwerelosigkeit, liebte bedingungslos und leidenschaftlich. Doch darüber reden konnte sie mit niemandem. Er wollte das nicht. Sie hielt sich an seine Spielregeln, war sicher, niemand ahnte auch nur das Geringste von ihrer Liebe zu dem Industriellensohn.
Luise erregte, so musste sich auch der junge Mann eingestehen, all seine Sinne. Mit ihr konnte er seine Begierden und Wünsche ausleben, sie in ihrer schäbigen Kammer verführen, in einer Droschke oder in einem jener Hotels, wo die Portiers blind und taub waren, nur mit zittrigen Fingern gierig nach dem Geldschein grabschten und die Zimmerschlüssel mit einem kratzenden Geräusch über die Theke schoben. Mit ihr konnte er in das verruchteste aller Varietétheater gehen und ihr im Halbdunkel ungeniert zwischen die Schenkel greifen, sie im Zoo mit einer solchen Leidenschaft küssen, dass selbst die Paviane kreischend in ihren Käfigen hin und her sprangen, oder sie in eine Kirche ziehen und in einen Beichtstuhl drücken, wo er ihr den Rock hochschob. Er konnte ihr ein hübsches Kleid schenken und mit ihr aufs Land fahren, als wären sie ein biederes Brautpaar, nur um mit ihr am nächsten Abend in einer der heruntergekommenen Spelunken zu schmusen wie mit einem billigen Flittchen. Luise machte alles mit. Sie war frei von Eifersucht, sprach nie von der großen Liebe oder gar vom Heiraten. Er lenkte sie, und sie ließ ihn gewähren. Sie war sein Gegenstück, irgendwie rein, ehrlich und frei von düsteren Gedanken. Sie war all das, was er nie sein würde. Und er wusste, er besaß diese Macht über Menschen, und vor allem über die Frauen.
Obwohl sich der Sohn des Industriellen nach wie vor wenig um Konventionen scherte, blieb er vorsichtig. Niemals hätte sein alter Herr eine solche Verbindung toleriert. Man erwartete von ihm die Leitung eines großen Unternehmens, und dazu gehörte eine Frau von Stand. Er hörte schon seinen Vater schnarren: »Was? Du machst mit einem Frauenzimmer rum, das in einer heruntergekommenen Destille miesen Fusel über die Theke schiebt, das aus einem verlotterten Kaff kommt und dazu auch noch aus dieser gottverfluchten Uckermark. Hat sie wenigstens einen Adelstitel?«
Natürlich war er vorsichtig, aber den jungen Mann reizte auch das Versteckspiel, das Kribbeln des Verbotenen und Heimlichen. Eine offene Romanze hielt er für fade. Das steife Promenieren mit einer Verlobten am Arm, dieses alberne Kopfnicken, wenn man jemandem Unter den Linden oder auf der Friedrichstraße begegnete, diese Demonstration des Durchschnittlichen – allein schon die Vorstellung ließ ihn erschaudern.
Nach knapp fünf Monaten spürte er mit Unbehagen, dass er dieses Mädchen vom Lande gern hatte. Aber zugleich spürte er auch eine Sättigung. An einem Montag – auf den Dächern lag ein Hauch Neujahrsschnee – verließ er Luise, verschwand so unvermittelt, wie er gekommen war, während sie dahintrieb, eine Schiffbrüchige, die keine Ahnung hatte, ob sie je wieder Festland erreichen würde. Denn Luise war im dritten Monat schwanger.
So lange wie möglich versuchte sie zu verbergen, dass sie in anderen Umständen war. Doch dann, als ihre Rundungen unübersehbar wurden, stellte sie der Wirt zur Rede. Es war an einem späten Abend, die Gaststube war leer, und das letzte Glas stand gereinigt und abgetrocknet im Regal. Ihre Hände verkrallten sich in die Schürze, ihr Hals war wie verknotet. Tränen liefen über ihre geröteten Wangen und zogen eine glänzende Spur in ihr makelloses Gesicht. Sie wusste, dass sie hier, im Nussbaum, ihr winziges Stückchen Glück gefunden hatte. Einen Ort, der ihr Sicherheit gab, vielleicht sogar ein Zuhause.
»Wat haste da nur anjestellt, Luise? Dat de Leute reden tun, is mir ejal. Wat denkste, wie det is, mit ’nem kleenen Hosenmatz und so janz ohne Ehemann? Du kannst bleeben, solange det jut jeht mit deene andere Umstände. Aber dann, so leid det mir tut, Luise, dann musste dir nach wat anderem umsehn.«
Luise wusste, dass sie von ihrem Liebhaber nichts zu erwarten hatte. Im Geheimratsviertel würde ihr das Personal die Tür vor dem dicken Bauch zuschlagen. Was wollte diese Mamsell bloß von dem jungen Herrn? Die Hure sollte sich fortscheren mit ihrem Bastard. In Luise sträubte sich alles, ihm ein Kind aufzuzwängen. Er lebte sein Leben, und sie musste das ihre leben. Natürlich hatte sie auch daran gedacht, beim Frauenverein Rat zu holen. Aber eine schwangere und ledige Hilfskraft war schwieriger zu vermitteln als eine siebzigjährige Alte mit Arthrose in den Knochen. Henriette konnte sie auch nicht um Hilfe bitten, die hatte sie seit zwei Jahren nicht gesehen. Und nach Hause fahren? Niemals. Mutter hätte sie mit dem Besen verjagt und gezürnt, Luzifers Braut wolle man nicht in der Uckermark, sie solle sich zurück in die Hölle scheren.
Luise blieb im Nussbaum und machte ihre Arbeit. Ab dem sechsten Monat – die Säfte begannen sich in dem Baum vor dem Gasthaus zu regen, und ein erstes zaghaftes Grün deutete den Frühling an – wurde ihr zunehmend schwindelig, und sie litt unter Krämpfen in den Beinen. Der Wirt zahlte sie aus und legte noch etwas obendrauf, so dass es reichen sollte bis zur Niederkunft. An einem regnerischen Tag verließ sie das Haus Nummer 21 in der Fischerstraße und mietete sich in einer Schlafstube ein, wo sie mit zwei Frauen und vier Kindern hauste. Ein Zimmer in einem mausgrauen Hinterhaus, in dem sich die Betten türmten und Wäscheleinen kreuz und quer im Raum hingen wie riesige Spinnweben.
M O T I V S U C H E
Schneeflocken, Hinterhöfe und eine Karikatur
Wie schon so oft erkundete Heinrich Zille wieder einmal die Schattenseite Berlins. In der Hand eine Eastman Detective Camera. Wahrscheinlich war es ein eifriger Leser von Spionageromanen gewesen, der ihnen zu ihrer kuriosen Bezeichnung verholfen hatte. Diese neuen Apparate waren leichter und statt der umständlichen Platten arbeiteten sie als erste mit Rollfilmen. Zille konnte nicht leben von seinen Karikaturen, sein Geld verdiente er bei der Photographischen Gesellschaft am Dönhoffplatz.
Normalerweise waren Fotografen ständig auf der Suche nach dem Bild, knipsten kitschige Sonnenuntergänge – in Schwarzweiß allerdings nicht eben befriedigend