In der Sommerfrische. Anton Tschechow

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Название In der Sommerfrische
Автор произведения Anton Tschechow
Жанр Языкознание
Серия Klassiker der Weltliteratur
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783843804660



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nach Tjumen … dann nach Tomsk … dann … dann … nach Kamtschatka … Von dort bringen uns die Samojeden mit Booten über die Beringstraße … Und dann sind wir gleich in Amerika. Dort gibt es viele Pelztiere.«

      »Und Kalifornien?«, fragte Wolodja.

      »Kalifornien ist weiter unten … Wenn wir einmal in Amerika sind, so ist’s auch nach Kalifornien nicht mehr weit. Und den Unterhalt erwerben wir uns durch Jagd und Raub.«

      Tschetschewizyn ging den Mädchen den ganzen Tag aus dem Wege und blickte sie unfreundlich an. Nach dem Abendtee blieb er aber zufällig an die fünf Minuten mit ihnen allein. Da er sich schämte, noch länger zu schweigen, hüstelte er streng, rieb sich mit der rechten Hand den linken Arm, blickte Katja finster an und fragte:

      »Haben Sie den Main-Reed gelesen?«

      »Nein … Hören Sie, können Sie Schlittschuh laufen?«

      Tschetschewizyn war aber schon wieder in seine Gedanken vertieft und gab keine Antwort. Er blähte nur die Backen auf und gab einen solchen Laut von sich, als ob er es sehr heiß hätte. Er blickte Katja noch einmal an und sagte:

      »Wenn die Büffelherde durch die Pampas rennt, so zittert die Erde, und die erschrockenen Mustangs schlagen aus und wiehern.«

      Tschetschewizyn lächelte wehmütig und fügte hinzu:

      »Und die Indianer überfallen die Züge. Am schlimmsten sind aber die Moskitos und die Termiten.«

      »Was ist denn das?«

      »Eine Art Ameisen, doch mit Flügeln. Die beißen furchtbar. Wissen Sie, wer ich bin?«

      »Herr Tschetschewizyn.«

      »Nein. Montigomo, die Habichtkralle, der Häuptling der Unbesiegbaren.«

      Mascha, die Jüngste, sah ihn erst an, blickte dann auf das Fenster, hinter dem es schon dunkelte, und sagte nachdenklich:

      »Und wir haben gestern Linsen gehabt.«

      Die absolut unverständlichen Worte Tschetschewizyns, und dass er immer mit Wolodja tuschelte, und dass Wolodja nicht mehr spielte, sondern über etwas nachdachte, – all das war rätselhaft und seltsam. Die beiden älteren Mädchen, Katja und Sonja fingen nun an, die Jungens aufmerksam zu beobachten. Wenn die Jungens abends zu Bett gingen, schlichen die beiden Mädchen zur Tür und horchten. Ach, was sie da hören mussten! Die Jungens wollten irgendwohin nach Amerika, um Gold zu graben und hatten schon alles für die Reise fertig: eine Pistole, zwei Messer, Zwieback, ein Vergrößerungsglas, um Feuer zu machen, einen Kompass und vier Rubel bar. Sie erfuhren, dass die Jungens einige tausend Werst zu Fuß zu gehen hatten; unterwegs mussten sie mit Tigern und mit Wilden kämpfen, dann Gold graben, Elfenbein erbeuten, Feinde töten, Seeräuber sein, Gin trinken und schließlich schöne Frauen heiraten und Pflanzungen bearbeiten. Wolodja und Tschetschewizyn unterbrachen einander immer vor lauter Begeisterung. Tschetschewizyn nannte sich dabei »Montigomo, die Habichtsklaue« und seinen Freund Wolodja – »Bruder Blassgesicht«.

      »Pass auf, erzähl’ nichts der Mama«, sagte Katja zu Sonja vor dem Zubettgehen. »Wolodja bringt uns aus Amerika Gold und Elfenbein mit; wenn du es aber der Mama sagst, lässt man ihn nicht gehen.«

      Einen Tag vor dem Christabend studierte Tschetschewizyn den ganzen Tag die Karte von Asien und schrieb sich etwas auf; Wolodja aber ging matt und mit aufgeschwollenem Gesicht, wie von einer Biene gestochen, von Zimmer zu Zimmer, blickte finster drein und wollte nichts essen. Einmal blieb er im Kinderzimmer vor dem Heiligenbilde stehen, bekreuzigte sich und sagte:

      »Herr, vergib mir die Sünde! Herr, beschütze meine arme, unglückliche Mama!«

      Gegen Abend fing er zu weinen an. Vor dem Schlafengehen umarmte er den Vater, die Mutter und die Schwestern ungewöhnlich lange. Katja und Sonja wussten gut, warum er so war, aber die Jüngste, Mascha, verstand gar nichts, absolut nichts; nur als sie den Tschetschewizyn ansah, wurde sie nachdenklich und sagte aufseufzend:

      »An Fasttagen, sagt die Kinderfrau, muss man Erbsen und Linsen essen.«

      Am nächsten Morgen standen Katja und Sonja früh auf und schlichen leise zur Tür, um zu sehen, wie die Jungens nach Amerika durchbrennen.

      »Du fährst also nicht mit?«, fragte Tschetschewizyn böse: »Sag: du fährst nicht mit?«

      »Mein Gott!«, wimmerte Wolodja leise. »Wie soll ich fahren? Die Mama tut mir leid.«

      »Bruder Blassgesicht, ich bitte dich, komm mit! Du hast doch selbst beteuert, dass du hingehst, hast mich überredet, und jetzt, wo man aufbrechen muss, hast du plötzlich Angst bekommen.«

      »Ich … ich hab’ keine Angst … mir tut nur die Mama leid.«

      »Sag: kommst du mit oder nicht?«

      »Ja, ich komm schon mit … aber nicht gleich. Ich will noch ein wenig zu Hause bleiben.«

      »In diesem Falle fahre ich allein!«, sagte Tschetschewizyn entschieden. »Werde auch ohne dich auskommen. Und du wolltest noch Tiger jagen und kämpfen! Gib mir meine Zündblättchen zurück!«

      Wolodja weinte so laut, dass seine Schwestern sich nicht länger beherrschen konnten und gleichfalls in Tränen ausbrachen. Dann wurde alles still.

      »Du kommst also nicht mit?«, fragte Tschetschewizyn wieder.

      »Ich … ich komme mit.«

      »Dann zieh dich an!«

      Um Wolodja endgültig zu überreden, lobte Tschetschewizyn Amerika, brüllte wie ein Tiger, mimte ein Dampfschiff, fluchte und versprach Wolodja das ganze Elfenbein und alle Tiger- und Löwenfelle.

      Dieser schmächtige Junge mit dem dunklen Gesicht, mit den struppigen Haaren und Sommersprossen erschien den Mädchen als ein ungewöhnlicher, hervorragender Mensch. Er war ein Held, ein entschlossener, furchtloser Mann und verstand so zu brüllen, dass man, hinter der Tür stehend, wirklich glauben konnte, es sei ein Löwe oder ein Tiger.

      Als die Mädchen wieder in ihrem Zimmer waren und sich ankleideten, sagte Katja mit Tränen in den Augen:

      »Ach, ich habe solche Angst!«

      Bis zwei Uhr, als man sich zu Tisch setzte, war alles ruhig, doch da zeigte es sich, dass die Jungens verschwunden waren. Man schickte ins Dienstbotenzimmer, nach dem Pferdestall, zum Gutsverwalter – sie waren nirgends zu finden. Man schickte aufs Dorf – auch dort waren sie nicht. Auch den Tee trank man ohne sie, und als man sich zum Abendessen setzte, war die Mama sehr unruhig und weinte. Nachts suchte man wieder im Dorfe und ging mit Laternen zum Fluss. Mein Gott, das war eine Unruhe!

      Am andern Tag kam der Polizeiwachtmeister gefahren, und im Esszimmer wurde irgendein Papier aufgesetzt. Die Mama weinte.

      Da hielt aber schon vor der Haustür ein breiter Schlitten, und vom weißen Dreigespann stieg dichter Nebel auf.

      »Wolodja ist gekommen!«, rief jemand auf dem Hofe.

      »Woloditschka ist gekommen!«, schrie Natalja, ins Esszimmer stürzend.

      Auch Mylord brüllte »Wau! wau!« Es stellte sich heraus, dass man die Jungens in der Stadt, im Kaufhause angehalten hatte (sie gingen von Laden zu Laden und fragten überall, wo man Schießpulver kaufen könne). Als Wolodja in den Flur trat, fiel er der Mutter um den Hals und brach in Tränen aus. Die Mädchen zitterten und dachten mit Schrecken, was jetzt wohl kommen würde. Sie hörten, wie der Papa sich mit Wolodja und Tschetschewizyn auf sein Zimmer zurückzog und mit ihnen lange sprach; auch die Mama redete und weinte.

      »Darf man denn das?«, ermahnte der Papa. »Wenn man es, Gott behüte, im Gymnasium erfährt, relegiert man euch beide. Sie sollten sich schämen, Herr Tschetschewizyn! Es ist nicht schön! Sie sind der Rädelsführer, und ich hoffe, dass Ihre Eltern Sie bestrafen werden. Darf man denn das? Wo habt ihr übernachtet?«

      »Auf dem Bahnhofe!«, erwiderte Tschetschewizyn stolz.

      Wolodja