Pompeji. Massimo Osanna

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Название Pompeji
Автор произведения Massimo Osanna
Жанр История
Серия
Издательство История
Год выпуска 0
isbn 9783806243932



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stand in Pompeji eindeutig für den göttlichen Schutz einer ganz bestimmten Altersgruppe. Die Gemeinschaft selbst hat also aus ihrer spezifischen historischen Erfahrung heraus diejenigen Ausprägungen einer Gottheit ausgemacht, die den Erhalt der bürgerlichen Gemeinschaft am besten verkörperte und zu schützen wusste. Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass sich diese besondere Ausprägung des Kultes im Umfeld griechischer Städte manifestierte, in Pompeji in Verbindung mit Neapolis. Die italischen Gruppierungen strukturierten ihre bürgerlichen Gemeinschaften und Rituale, die Stabilität und Überleben sicherten, normativ und übernahmen aus den griechischen Städten die jeweils geeignetsten Instrumente der zeremoniellen Inszenierung.

      Der Epilog der langen Sakralgeschichte Pompejis ist – wie der für die übrige Geschichte – mit dem tragischen Vesuvausbruch von 79 n. Chr. verbunden. In den letzten Jahrzehnten befand sich das Heiligtum am Foro Triangolare im Wiederaufbau. Die neuen Untersuchungen konnten belegen, dass die architektonische Gestalt, die wir als heutige Besucher der Stadt vorfinden, der letzten Bauphase angehört. Diese Bauphase (Abb. 23), die weite Bereiche des Foro Triangolare umfasste, ist wohl auf die Auswirkungen des dramatischen Erdbebens von 62 n. Chr. zurückzuführen. Aus der Zeit nach dem Erdbeben stammt die Portikus (Abb. 24), die den Platz nach Westen hin abschließt und ihm die charakteristische Trapezform verleiht, von der sich der moderne Name des Forums ableitet.66 Für den Bau der neuen Portikus wurden Strukturen und Nutzungshorizonte der Vorgängerphasen, die für das neue Bauvorhaben auf einem zu hohen Niveau lagen, abgetragen: Dem Bau der westlichen Portikus mussten sowohl die nördlich gelegenen rechteckigen Raumstrukturen als auch die westliche Umfassungsmauer aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. weichen. Letztere wurde durch die Rückwand der Portikus ersetzt, deren Flucht allerdings leicht von ihr abwich. Dies wiederum führte dazu, dass auch in den letzten Abschnitt des sogenannten Vicolo della Regina Carolina und des in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Straßenabschnitts bis zur Via del Tempio di Iside baulich eingegriffen wurde. Bei der Realisierung der neuen Portikus wurden die älteren architektonischen Bauglieder wiederverwendet. Nur so ist die scheinbare Ungereimtheit verständlich: Gemäß den Ergebnissen der stratigrafischen Untersuchung im Fundamentbereich und unterhalb der Fußböden kann die Portikus nicht vor die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. datiert werden; zugleich aber weist sie eine dorische Ordnung auf, die der von Gebäuden des 2. Jahrhunderts v. Chr. völlig gleicht.

      Abb. 22 Am südlichen Rand des Areals, auf dem der Minervatempel errichtet wurde, befindet sich ein durch einen Rundbau mit Säulen monumentalisierter Tiefbrunnen. Wasser spielte wegen seiner Bedeutung als reinigendes Element, aber auch aus praktischen Gründen eine wichtige Rolle innerhalb der im Heiligtum vollzogenen Riten. Als Element, das die Erdoberfläche mit der unterirdischen Welt verbindet, war es mit dem Kult der chthonischen und orakelsprechenden Gottheiten, wie den Nymphen, verbunden.

      Das Gebäude in der Mitte des Platzes wurde in dieser Bauphase – es war wahrscheinlich stark beschädigt – abgetragen. Die Defunktionalisierung wurde von einer Reihe ritueller Handlungen begleitet. Davon zeugen diverse kleine Opfergruben, die mit organischem Material (wie Pinienkernen etc.) und Keramik gefüllt waren; in einer davon fand sich sogar eine bronzene Strigilis (das Symbol der antiken Athleten par excellence; Abb. 25). Diese Opfergruben symbolisieren für uns das rituell begangene Ende einer Sakralgeschichte, das allerdings auch die Fortsetzung des Kults in anderer Form ermöglichen sollte.67

      Abb. 23 Das Areal des Heiligtums ist durch zwei Tiefbrunnen, der eine im Norden, der andere im Süden, charakterisiert. Der südliche blieb bis zum Zeitpunkt des Vesuvausbruchs von 79 n. Chr. in Benutzung; der andere wurde, obwohl er mit dem unterirdischen Zisternensystem in Verbindung stand, im Rahmen der Errichtung der westlichen Portikus nach dem Erdbeben von 62 n. Chr. aufgegeben. Zu sehen ist hier der nordwestliche Abschnitt der Portikus: Gegenüber dem Eingang befand sich neben dem Labrum für Lustralwasser eine Statuenbasis mit der Widmung an Marcellus, den Neffen des Kaisers Augustus. (Rekonstruktion: M. Livadiotti, G. Rocco.)

      Abb. 24 Die umlaufende Portikus, die das Heiligtum begrenzt, ist mit dorischen Säulen und einem in Metopen und Triglyphen untergliederten Architrav ausgeführt. Wegen des Stils und der architektonischen Ordnung wurde lange über den Zeitpunkt ihrer Errichtung diskutiert, der traditionell in hellenistische Zeit gesetzt wurde. Die jüngeren Ausgrabungen aber belegen einen Bau in der Zeit nach dem Erdbeben von 62 n. Chr. unter Verwendung älterer Bauelemente.

      De facto wurde der Kult vielleicht gar nicht wieder aufgenommen. Denn der Vesuvausbruch setzte, wie überall in der Stadt, den laufenden Arbeiten ein abruptes Ende. Konserviert ist hier eine Momentaufname des permanenten ‚work in progress‘.

      Die Sorge um eine würdige architektonische Ausgestaltung der Kultstätte endete also nie. Das Erdreich ist ein Archiv. Es bewahrt die Spuren von ganz unterschiedlichen Menschen und ihren Aktivitäten im und für das Heiligtum, von Priestern und Handwerkern bis hin zu den unzähligen Mädchen und jungen Männern, die hierher kamen, Generation um Generation, um einen wichtigen Moment ihres Wachsens und ihrer Biografie zu akzentuieren.

      Abb. 25 Diese Strigilis wurde zusammen mit organischem Material in einer kleinen Opfergrube entdeckt. Diese Opfergruben stehen im Zusammenhang mit dem Abbau und der Defunktionalisierung des kleinen Sakralbaus, der über den grottenähnlichen Höhlungen errichtet worden war. Die Strigilis, üblicherweise aus Bronze, wurde benutzt, um den Körper nach sportlichen Übungen durch Abschaben zu reinigen. Als Votivobjekt verweist sie auf die Verbindung der im Heiligtum verehrten Gottheiten zu Sport und Wettkampf. (Foto: F. Giletti.)

      Kapitel 2

      Sprechende Gefäße: die Anfänge Pompejis

      Mi mamarces tetanas – „ich [gehöre] Mamarce Tetana“: Verschiedene Gefäße aus den ältesten Heiligtümern des Mittelmeerraums (8. bis 5. Jahrhundert v. Chr.) haben Aufschriften, in denen sie in der ersten Person zum Betrachter „sprechen“.1 So auch einzelne Exemplare in einem weiteren Heiligtum Pompejis, das wenige Hundert Meter von der südlichen Stadtgrenze entfernt liegt (Abb. 26 und 27). Man benannte es nach den Besitzern des Grundstücks, auf dem es 1960 entdeckt wurde, und spricht seither vom Heiligtum des Fondo Iozzino. Der heilige Bezirk liegt auf einer etwa zwanzig Meter hohen Hügelkuppe, die den Blick auf das Sarno-Tal freigibt. Er war umgeben von einer einfachen, rechteckigen Umfassungsmauer aus einem lokalen Travertin und Pappamonte-Blöcken, einem lokalen Tuffstein. Im Innern lagen unter freiem Himmel Altäre und größere, den Opfern und Gaben an die Gottheit vorbehaltene Areale. Die Kultstätte war eingebettet in eine suburbane, ländliche Landschaft, die – so ergab die Auswertung zahlreicher Holzkohlereste – unter anderem von Eichen- und Buchenwäldern geprägt war, und grenzte an eine Straße, die von der Stadt Richtung Hafen führte.

      Die Ausgrabung des Bezirks hatte als Notgrabung infolge von Bauarbeiten für ein Wohnhaus im modernen Pompeji begonnen. Im Jahr 1990 nahm man die Untersuchungen wieder auf, um raubgräberischen Aktivitäten entgegenzuwirken. Von 2014 bis heute wurden die Grabungsarbeiten schließlich systematisch durchgeführt: Sie brachten einen der Orte ans Licht, wie sie für unser Verständnis der frühesten Phasen Pompejis – und nicht nur Pompejis – prägend sind (vgl. zum Beispiel den Fund in