Die Alpen. Werner Bätzing

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Название Die Alpen
Автор произведения Werner Bätzing
Жанр Журналы
Серия
Издательство Журналы
Год выпуска 0
isbn 9783806243499



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dass es schnell aktualisiert werden kann. Jeder Bergsteiger kennt das Gefühl, das sich bei einem plötzlichen Wetterumschwung im Hochgebirge einstellt: Gerade eben genoss man noch die schöne Landschaft im Sonnenschein, dann aber zieht sich der Himmel schnell zu, es beginnt zu graupeln und zu schneien, Wege, Wiesen und Felsen werden glatt und rutschig – und auf einmal wirkt die Landschaft, die eben noch so schön war, nur noch bedrohlich, feindlich und hässlich. Und mit der Angst sind die „montes horribiles“ sofort wieder präsent.

      Das von den Römern entworfene Alpenbild geht davon aus, dass die Alpen überall nutzungsfeindlich und gefährlich seien. Die dort lebenden Menschen gelten als „Barbaren“, die eher wie Tiere als wie Menschen lebten und denen das fehle, worauf die Römer so stolz sind, nämlich eine „Kultur“ im Sinne einer städtisch geprägten Hochkultur.

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      10 Stich von Johann Melchior Süßlinus aus dem Jahr 1716, der die schrecklichen Alpen zeigt. Im Vordergrund sind bereits erste Hinweise auf die beginnende wissenschaftliche Analyse der Alpen zu sehen.

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      11 Stich von David Herrliberger „Schnee-Lauwen … wie sich dieselbigen ab gächstotzigen Gebirgen fast senkrecht herunterstürzen“ aus dem Jahr 1756.

      Das Bild der Alpen als „montes horribiles“ ist bereits zur Zeit seiner Entstehung ein Zerrbild: Die Alpen sind schon damals seit 5000 Jahren dauerhaft besiedelt, und die Alpenbewohner haben mit großen kulturellen Leistungen und viel Arbeit die Alpen von einer Naturlandschaft zu einem Lebens- und Wirtschaftsraum umgewandelt, von dem die römischen Städte regelmäßig eine Reihe von Lebensmitteln beziehen. Und die neuen Römerstraßen machen eine Durchquerung sogar relativ einfach und gefahrlos.

      Das Bild der schrecklichen Alpen ist also keineswegs realitätsnah, sondern es überzeichnet einen Aspekt der Alpennatur und gibt ihm eine absolute Bedeutung. Bild 11 zeigt dies sehr anschaulich: Die Darstellung einer Lawine als große Kugel, die von einer senkrechten Felswand direkt von oben auf ein kleines Dorf herabfällt und in der noch Bäume, Gebäude sowie eine Gämse stecken, ist ein beliebtes und oft wiederholtes Motiv, um die Schrecklichkeit der Alpen zu illustrieren. Aber jeder, der die Alpen nur etwas kennt, weiß, dass Lawinen keine Kugeln sind und erst recht nicht über senkrechte Felswände herabfallen. Das heißt nichts anderes, als dass solche Illustrationen in Städten außerhalb der Alpen entstehen und dass die Zeichner die Verhältnisse in den Alpen nicht kennen: Das Bild der Alpen im Kopf ist stärker als die Realität.

      So ist es kein Zufall, dass diese Darstellung der Lawine als Kugel heute noch verwendet wird, nämlich in Comic-Zeichnungen oder Karikaturen. Der erste Eindruck vieler Kinder in Europa von den Alpen wird stark durch solche Bilder geprägt.

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      12 Das Gestein der zentralen Seealpen – hier der Colletto di Valscura, 2520 m, zwischen Gesso- und Stura-Tal – besteht aus sehr langsam verwitternden Gneisen und Graniten mit geringer Bodenbildung, sodass der Ödlandanteil hier sehr hoch ist. Eine solche Landschaft wirkt – besonders bei schlechtem Wetter – abweisend und wenig „schön“. Daran ändert auch der Lago Malinvern, 2122 m, im Vordergrund wenig, weil an seinen Ufern alle einladenden Elemente fehlen. Auf diese Weise erhält auch ein Idealtopos der Idylle wie der Bergsee einen strengen Charakter (August 1999).

      Indem die vorindustriellen Gesellschaften in Europa ihre Angst vor der Natur aus ihrem eigenen Alltag verdrängen und sie auf die fernen Alpen projizieren, versuchen sie sie in den Griff zu bekommen. Insofern sind die „schrecklichen Alpen“ weniger eine Beschreibung der Alpen als vielmehr der Ausdruck der Angst der europäischen Gesellschaften vor der tagtäglichen Bedrohung durch die Natur. Da man diese Angst aber nicht bewältigen kann, wenn man sie bei sich selbst verleugnet und auf etwas Anderes, Fremdes überträgt, stellen die „montes horribiles“ zugleich das Symbol des Scheiterns dieser Angstbewältigung dar.

      Der Wandel von den schrecklichen zu den schönen Alpen lässt dann anschaulich sichtbar werden, wie die neu entstehende Industriegesellschaft mit dieser Angst umgeht: Die Natur stellt für sie keine wirkliche Gefahr, sondern nur noch eine spielerische oder sportliche Herausforderung dar. Damit glaubt die Industriegesellschaft, dass sie Natur technisch vollständig im Griff habe. Dennoch bleibt noch die Erinnerung an die frühere Gefahr im „Hintergrund“ erhalten, und diese verschwindet erst beim Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft endgültig.

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      13 und 14 Zwei Bilder von Mathias Gabriel Lory, dem Sohn (1784 – 1846), die auf idealtypische Weise die schönen Alpen zeigen: Links Eiger, Mönch und Jungfrau von der Mettlenalp aus, rechts der Staubbachfall mit Lauterbrunnen.

      Die schönen Alpen

      Die Wahrnehmung der Alpen als „schöner Landschaft“ ist für uns heute so selbstverständlich, dass wir sie mit „den Alpen“ identifizieren – die Alpen selbst sind doch schön! – und dass wir gar nicht mehr wahrnehmen, dass es sich dabei um eine Sichtweise handelt, die erst zwischen 1760 und 1780 entwickelt wird. Zuvor galten viele Jahrhunderte lang nur fruchtbare und ertragreiche Ackerfluren oder parkartige Weidelandschaften als schön, und nur solche Motive wurden von Künstlern abgebildet. Jetzt aber geraten diese Motive schnell in Vergessenheit, und Bilder aus den Alpen treten auf einmal an ihre Stelle. Was ist passiert?

      Sehen wir uns zwei zeitgenössische Darstellungen an: Im Vordergrund befindet sich jeweils ein flacherer, sanfterer Landschaftsteil, der landwirtschaftlich genutzt und menschlich geprägt ist, im Hintergrund dagegen eine steile, abweisende Felswand und eisbedeckte, unzugängliche Gipfel.

      Diese Bildkomposition lebt von dem starken Motivkontrast zwischen einem idyllischen menschlichen Lebensraum im Vordergrund, der behaglich und einladend wirkt, und einem menschenfeindlichen, bedrohlichen Hintergrund, der Angst und Schrecken hervorruft – diese Spannung elektrisiert die damaligen Betrachter und spricht sie unmittelbar an. Würden die bedrohlichen Berge im Hintergrund fehlen, wäre der idyllische Vordergrund allein langweilig, nichtssagend und ausdruckslos.

      Seit der Industriellen Revolution haben die Menschen ihre frühere Angst vor der Natur verloren. Die bedrohlichen Berge rufen jetzt keine echte Angst mehr hervor (Abstoßung), sondern nur noch einen aufregenden Nervenkitzel (Anziehung), und dieser würde fehlen, wenn ein Bild nur einladende Nutzflächen und schöne Häuser zeigen würde.

      Das Aufregende an der neuen Bildkomposition ist also die radikale Gegenüberstellung von menschlicher Idylle und bedrohlicher Natur. Solche Bilder sprechen die damaligen Betrachter – nicht die Alpenbewohner, sondern die Bürger aus den stark wachsenden Industriestädten – emotional stark an, weil sie eine Sehnsucht ausdrücken: Diese Bilder zeigen, dass der Mensch in einer so feindlichen Umgebung wie den Alpen glücklich leben kann, wenn er sich der Natur einpasst und sich ihr unterordnet.

      Das Erstaunliche an diesem Alpenbild ist, dass die Gegenwart, aus der heraus es entsteht, darin gar nicht vorkommt: Die beginnende Industriegesellschaft verbraucht und zerstört im Alltag Natur und Landschaft im großen Stil, und erfreut sich am Sonntag bzw. im Urlaub an einer Mensch-Natur-Harmonie, die ihrer Alltagspraxis vollständig widerspricht und die sich auch räumlich getrennt davon abspielt: Industriegebiete sind nie schön. Dieser Widerspruch macht dann Sinn, wenn am Sonntag und im Urlaub der naturzerstörerische Alltag durch die Bewunderung der schönen Landschaft (einschließlich der Menschen, die sich der Natur unterordnen) vergessen gemacht, ausgeglichen oder „kompensiert“ werden soll: Dann wird das Unbehagen an der Naturzerstörung, das den gesamten Alltag durchzieht, durch die große Bewunderung der Natur am Sonntag unterdrückt und vergessen gemacht, und man kann sich am Montag früh wieder mit frischen Kräften seinen Alltagsaufgaben zuwenden. Es liegt auf der Hand, dass diese Sichtweise