Название | Unrast |
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Автор произведения | Olga Tokarczuk |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783311700449 |
Unterdessen sinkt die Sonne langsam über dem Weingarten, und als sie den Kamm erreichen, sieht man, dass sie schon das Meer berührt. Sie werden unfreiwillige Zeugen ihres theatralischen langen Untergangs. Schließlich schalten sie ihre Taschenlampen an. Es ist schon dunkel, als sie auf den hohen, felsigen Küstenstreifen der Insel kommen, wo zahlreiche Buchten sind. Sie steigen in zwei Buchten hinab, um nachzufragen. In kleinen Steinhäusern wohnen dort etwas exzentrischere Touristen, die keine Hotels mögen und dafür lieber etwas mehr bezahlen, um weder fließendes Wasser noch Strom zu haben. Sie bereiten ihr Essen auf Steinöfen zu, manche haben auch Gasflaschen mitgebracht. Sie fangen Fische, die direkt vom Meer auf den Grill wandern. Nein, niemand hat eine Frau mit einem Kind gesehen. Gleich gibt es bei ihnen Abendessen, Brot, Käse, Oliven und die armen Fische, die sich am Nachmittag noch ihren sorglosen Spielen im Meer hingegeben haben. Immer wieder ruft Branko im Hotel in Komiøa an – Kunicki bittet ihn darum, weil er sich nur vorstellen kann, dass sie sich verirrt hat und schließlich doch auf einem anderen Weg dorthin zurückgelangt. Doch nach jedem Anruf klopft Branko ihm nur wortlos auf die Schulter.
Gegen Mitternacht löst sich die Gruppe der Männer langsam auf. Auch die beiden, die Kunicki am Cafétisch in Komiża gesehen hat, sind dabei. Jetzt erst, beim Abschiednehmen, stellen sie sich vor: Drago und Roman. Zusammen gehen sie zum Auto. Kunicki ist ihnen für ihre Hilfe dankbar, er weiß nicht, wie er es ausdrücken soll, er hat vergessen, was auf Kroatisch »danke« heißt. Wahrscheinlich ein dem Polnischen entfernt ähnelndes Wort. Mit einem bisschen guten Willen müsste man eigentlich eine slawische Verständigungsform entwickeln können, eine Zusammenstellung ähnlicher praktischer slawischer Wörter, die man ohne Grammatik benutzen könnte, anstatt sich einer hölzernen und simplifizierten Version des Englischen zu bedienen.
In der Nacht legt ein Boot an dem Haus an, wo er wohnt. Sie müssen evakuiert werden, es gibt eine Überschwemmung. Das Wasser reicht schon bis zum ersten Stockwerk der Häuser. In der Küche dringt es durch die Fugen zwischen den Kacheln und strömt in warmen Bächen aus den Steckdosen. Die Bücher sind von der Nässe schon aufgequollen. Er öffnet eines und sieht, dass die Buchstaben wie Schminke zerfließen und verschmierte leere Seiten hinterlassen. Es stellt sich heraus, dass alle schon mit dem letzten Transport fortgefahren sind, nur er ist zurückgeblieben.
Im Schlaf hört er Tropfen, die vereinzelt vom Himmel fallen und kurz darauf zu einem heftigen kurzen Wolkenbruch werden.
Benedictus, qui venit
April auf der Autobahn, rote Sonnenstreifen auf dem Asphalt, eine vom Regen wie mit sorgfältig aufgetragenem Zuckerguss überzogene Welt – ein Osterkuchen. Es ist Karfreitag, irgendwo zwischen Belgien und Holland bin ich mit dem Auto unterwegs, ich weiß nicht genau, in welchem Land ich bin, die Grenze ist verschwunden, hat sich verwischt, wird nicht mehr gebraucht. Im Radio wird ein Requiem übertragen. Beim Benedictus leuchten plötzlich entlang der Autobahn die Lampen auf, als wollten sie den mir unfreiwillig übers Radio erteilten Segen wirksam werden lassen.
Eigentlich kann es aber auch nur daran gelegen haben, dass ich nun in Belgien angelangt war, wo man alle Autobahnen reisefreundlich zu beleuchten pflegt.
Panoptikum
Das Panoptikum und die Wunderkammer sind, wie ich einem Museumsführer entnahm, ein etabliertes Paar, das einen Vorläufer der Museen darstellt. Dort zeigte man alle möglichen gesammelten Kuriositäten, die die Eigentümer von ihren Reisen nach nah und fern mitgebracht hatten.
Man sollte nicht vergessen, dass Bentham sein geniales System zur Überwachung von Gefangenen auch als Panoptikum bezeichnete: Er plante eine Anlage, die räumlich so gestaltet war, dass jeder Gefangene jederzeit beobachtet werden konnte.
Kunicki. Wasser II
So groß ist die Insel ja nun auch wieder nicht«, sagt Djudzica am nächsten Morgen zu Branko, als sie ihm einen starken schwarzen Kaffee einschenkt.
Alle wiederholen diese Worte wie ein Mantra. Kunicki versteht, was sie sagen wollen, er weiß ja selbst, dass die Insel so klein ist, dass man nicht darauf verloren gehen kann. Die Insel ist nur zehn Kilometer lang, und es gibt zwei größere Orte darauf: Vis und Komiża. Man kann sie Zentimeter für Zentimeter durchsuchen, wie eine Schublade. Und in bei-den Orten kennen sich alle. Die Nächte sind warm, auf den Feldern wächst der Wein, die Feigen sind fast schon reif. Selbst wenn sie sich verirrt hätten, würde ihnen nichts zustoßen, sie würden weder verhungern noch erfrieren und auch nicht Opfer wilder Tiere werden. Sie würden eine warme Nacht im trockenen, sonnenerhitzten Gras verbringen, unter den Zweigen eines Olivenbaums und beim schläfrigen Rauschen des Meeres. Von keiner Stelle aus sind es mehr als drei, vier Kilometer zur Landstraße. Auf den Feldern stehen Steinhütten, wo die Weinfässer aufbewahrt werden, manchmal sind auch Essen und Kerzen da. Zum Frühstück nehmen sie sich eine Handvoll reife Weintrauben oder bekommen bei den Sommergästen in einer der Buchten eine richtige Mahlzeit.
Sie gehen hinunter zum Hotel, wo schon ein Polizist auf sie wartet, diesmal ist es ein anderer, jüngerer. Einen Augenblick lang hat Kunicki die Hoffnung, dass er gute Nachrichten hat, aber der Polizist fragt nur nach seinem Pass. Alle Angaben schreibt er ganz genau auf, sagt, dass sie jetzt auch auf dem Festland nach den beiden suchen werden, in Split. Und auf den benachbarten Inseln.
»Vielleicht sind sie übergesetzt«, erklärt er.
»Sie hatte kein Geld. No money. Alles ist hier drin.« Kunicki zeigt die Tasche und zieht ihr Portemonnaie heraus, es ist rot und mit kleinen Perlen bestickt. Er öffnet es und hält es dem Polizisten unter die Nase.
Der zuckt mit den Schultern und notiert seine Adresse in Polen.
»Wie alt ist das Kind?«
»Drei«, sagt Kunicki.
Sie fahren über eine Serpentinenstraße an dieselbe Stelle, der Tag verspricht heiß und klar zu werden, erleuchtet wie ein Dia. Am Mittag wird das Bild ganz daraus verschwinden. Kunicki denkt über die Möglichkeit nach, die Insel von oben zu betrachten, aus einem Hubschrauber, sie ist ja fast kahl. Er denkt auch an Erkennungschips, wie sie Vögeln eingesetzt werden, Kranichen und Störchen, aber für Menschen gibt es keine. Alle sollten so einen Chip haben, zu ihrer eigenen Sicherheit. Später könnte man dann alle ihre Bewegungen im Internet verfolgen: Strecken, Begegnungen, Verirrungen. Wie viele könnten vorm Tod gerettet werden! Er sieht einen Computerbildschirm vor sich, darauf bunte Linien, die Menschen bezeichnen, lauter Spuren, Zeichen. Kreise und Ellipsen, Labyrinthe. Vielleicht auch Endlosschleifen, vielleicht missratene Spiralen, die plötzlich abbrechen.
Ein Hund ist da, ein schwarzer Schäferhund, sie halten ihm ihren Pullover vom Rücksitz vor die Nase. Der Hund schnüffelt um das Auto herum, dann schlägt er den Pfad zwischen den Olivenbäumen ein. Kunicki fühlt plötzlich, wie neue Energie in ihm erwacht, gleich wird sich alles aufklären. Sie laufen hinter dem Hund her. Der Schäferhund bleibt an einer Stelle stehen, offenbar haben sie hier ihre Notdurft verrichtet, obwohl man keine Spur davon sieht. Er bleibt stehen, mit sich zufrieden – aber wir sind noch nicht fertig, Hund! Wo sind die Leute, wohin sind sie gegangen? Der Hund versteht nicht, was sie von ihm wollen, aber nach kurzem Zögern bewegt er sich weiter, biegt seitlich ab, Richtung Straße, weg von den Weingärten.
Dann ist sie an der Straße