1000 Narben. Selina Vögtlin

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Название 1000 Narben
Автор произведения Selina Vögtlin
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783962298456



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meiner Lehrerin etwas in mir ausgelöst. Nicht in diesem Moment, sondern erst später. Meine gedanklichen Reaktionen auf die Sorgen meiner Lehrerin waren: „Was? Ich eine Essstörung?! Ich brauche ja nicht abzunehmen, denn ich kann ja auch so essen, was ich will, ohne zuzunehmen.

      Das wird mir nie passieren, dass ich in eine Magersucht rutschen würde. Niemals!“

      Es war derzeit meine Meinung, weil ich wirklich keinen Grund hatte, mir Sorgen um mein Gewicht oder um meine Figur zu machen. Ich war, wie gesagt, schlank und befand mich gemäß BMI (Body Mass Index) im leichten Untergewicht. Ich war also weder dick oder unförmig noch auf dem Weg so zu werden.

      Es vergingen also nach diesem ersten Ereignis mit meiner Lehrerin wieder ein paar Monate. Mittlerweilen bin ich vierzehn Jahre alt geworden.

      Anfangs der Sommerferien dieses Schuljahres hatte ich eine Jugenduntersuchung beim Arzt. Dabei wird der aktuelle Entwicklungsstand festgehalten, Gewicht ermittelt und Größe gemessen und Fragen bezüglich Sexualität etc. gestellt.

      Als der Arzt mein Gewicht in eine Kurve eintrug, wo man sehen kann, ob jemand für sein Alter im Unter-, Normal- oder Übergewicht ist, warf meine Mutter, die neben mir im Behandlungszimmer saß, einen Blick darauf und meinte erfreut: “Ah toll! Du bist ja gar nicht mehr viel zu weit unten mit dem Gewicht.“ Ich weiß nicht, was genau diese Aussage in mir ausgelöst hat, aber sie hat etwas ausgelöst. Mir ist bewusst, dass meine Mutter diese Bemerkung nur gut meinte und sich nichts dabei gedacht hat.

      Was soll sie auch denken? Es ist ja ganz natürlich, dass sich eine Mutter über einen gesünderen Zustand ihres Kindes freut. Und es ist nun mal Tatsache, dass ein Gewicht im Normalbereich gesünder ist, als wenn man zu viel oder eben zu wenig wiegt.

      Doch in mir (ich hatte zu dieser Zeit immer noch keine Essstörung) lösten die vielen verschiedenen Ereignisse mehr aus, als ich wollte. Zur Frage der Lehrerin und freudigen Aussage meiner Mutter kam noch dazu, dass ich in dieser Zeit meine Menstruation bekam, vor welcher ich aus irgendwelchen Gründen schreckliche Angst hatte. Und das Thema «Pubertät» wurde in der Schule und auch in meinem Umfeld immer präsenter. Im Biologieunterricht wurde erzählt, wie sich ein Mädchen körperlich verändert, wenn es zur Frau wird. Man bekäme Rundungen, die Brüste wachsen und die Periode beginnt. Durch gewisse Veränderungen nimmt man an Gewicht zu und der Fettanteil wird höher…

      Ich saß zeitweise in diesem Biologieunterricht und hatte einfach nur Angst. Ich wollte das alles nicht. Keine Brüste, keine Rundungen; ich wollte nicht dicker werden; kurz gesagt: Ich wollte mich nicht verändern! Ich wollte nicht zur Frau werden.

      Das theoretische Wissen, welches uns in der Schule vermittelt wurde, beobachtete ich in der Praxis bei meinen weiblichen Mitschülerinnen. Allerdings veränderten sich diese nicht nur körperlich. Auch charakterlich bemerkte man die Pubertät: Sie wurden asozialer und egoistischer. Die Schule war ihnen plötzlich völlig gleichgültig, weil sie einfach faul waren und/ oder keine Lust hatten, sich für gute Noten zu bemühen. Die Pflichten wurden mehr und mehr vernachlässigt. Zudem verloren sie jeglichen Respekt vor den Lehrern und auch den eigenen Eltern. Sie waren zickig und launisch… irgendwie einfach nicht mehr sie selbst.

      Kurz gesagt, die Pubertät hatte in meinen Augen nur Nachteile. Deshalb fiel von mir eines Tages vor den Sommerferien die Entscheidung: „Ich werde mich nicht verändern und deshalb mein aktuelles Gewicht halten. Ich werde nicht abnehmen, aber auch keinesfalls zunehmen. So kann ich diese Veränderungen, welche die Pubertät mit sich bringt, sei es körperlich oder charakterlich, aufhalten und ich bleibe so diszipliniert, schlank und freundlich, wie ich bin.“

      Damals wusste ich noch nicht, wie diese Entscheidung mein Leben für immer verändern würde. Ich dachte mir nichts Böses dabei, sondern wollte einfach nur so bleiben, wie ich war!

      3

      „Du bist so schlank.“ „Ich hätte auch gerne so eine Figur wie du.“ Das waren Sätze, die sich bei mir wie ein Brandmal manifestierten. Während sich um mich herum die Mädchen zu jungen Frauen entwickelten, wurde ich dafür bewundert, meine schlanke Figur halten zu können.

      Diese Bewunderungen waren mitunter ein Grund dafür, dass ich mich nicht verändern wollte. Heute weiß ich, dass ich sicherlich auch viele andere Eigenschaften (nebst meiner Figur) gehabt hätte, die man hätte wertschätzen können. Aber ich war damals sehr unsicher, brav und somit eine gute Zielscheibe für fiese Kommentare und Hänseleien: Jahr um Jahr war ich Klassenbeste.

      Die guten Noten sind mir aber nicht einfach nur zugeflogen; ich habe dafür sehr viel gelernt. In meiner Klasse war ich so die Streberin. Von allen Seiten bekam ich den Neid zu spüren. Bis heute frage ich mich: Was habe ich diesen Leuten getan? Warum muss man jemanden hänseln, der anders ist? Ja! Ich war anders: Unsicher, mit vierzehn Jahren noch ziemlich Kind, nicht interessiert an Themen wie Sex, Schminken, Kleider und hatte gute Noten.

      Nicht nur durch die Noten fanden mich die anderen weniger toll. Irgendwie war ich auch sonst nicht okay, wie ich war. Zumindest gaben mir das die Jungs und teils auch Mädchen in meiner Klasse zu spüren. Für meine Figur jedoch bekam ich immer wieder diverse Komplimente. Unter anderem wuchs deshalb meine Angst vor den Veränderungen in der Pubertät. Dieses Phänomen namens „Pubertät“ drohte mir alles zu nehmen, was mich damals ausmachte bzw. was ich dachte, was mich ausmachte. Ich wusste damals mit der Entscheidung, mein Gewicht halten zu wollen, nicht, dass ich der Essstörung namens „Anorexia nervosa“ die Türen in mein Leben öffnete. Wie gesagt, ich wollte mich einfach nicht verändern; schon gar nicht meine Figur, das Einzige an mir, was für andere akzeptabel war.

      Der Sommer nach meiner Entscheidung verlief eigentlich noch normal. Ich ging mit meiner Familie in die Ferien, und wir verbrachten zwei eher regnerische Wochen in Österreich mit dem Wohnwagen. Wir mussten sogar noch die Heizung benutzen, weil es oftmals so kalt wurde.

      Eines Morgens schneite es. Im Sommer! Es gab aber auch ein paar sommerliche Tage, wo ich als Wasserratte das kühle Nass im nahegelegenen See genießen konnte. Wenn ich heute die Fotos von diesen Ferien anschaue, sehe ich ein junges Mädchen, das die Unbeschwertheit aus den Kindertagen noch nicht verloren hat.

      Wahrscheinlich waren mein kindliches Verhalten, gleichzeitig der Ehrgeiz für die Schule und das Streben nach guten Leistungen in allen Bereichen der Grund, warum die Hänseleien in meiner Klasse nach diesen noch normalen Sommerferien schlimmer wurden. Ich weiß nicht genau, warum meine Mitschüler, vor allem die Jungs, etwas gegen mich hatten. Ich war anders. Und das ist der Punkt: Ist anders sein schlecht?

      Heute weiß ich, dass alle Menschen auf der Erde sich voneinander unterscheiden. Jeder, jede und jedes ist ein Individuum, hat eigene Stärken und eigene Schwächen. Es leben 7.7 Milliarden Menschen auf diesem Planeten, und wir alle sind einzigartig.

      Was ich heute hier so schön schreiben kann, entsprach damals (und oft auch heute noch) nicht meiner Wahrheit. Denn wie gesagt, ich war extrem unsicher, und begann allmählich immer mehr zu glauben, was andere über mich sagten. So empfand ich persönlich das erste halbe Jahr nach den Sommerferien in der dritten Sekundarklasse als Horror.

      Ich hatte von mir selbst die Erwartung, Bestnoten schreiben zu müssen und wurde dafür jedes Mal „bestraft“ von meinen neidischen Mitschülern mit fiesen Kommentaren. „Streberin“ war DAS Wort in dieser Zeit. Egal, was ich machte, es war falsch und wurde kommentiert.

      Meinen Eltern entging nicht, dass es mir immer schlechter ging, aber sie waren überfordert. Sätze wie „hör einfach nicht hin“, „die sind nur neidisch“, „nimm es nicht persönlich“ veränderten leider nichts daran, dass mich all diese Sprüche sehr verletzten. Ich weinte oft und zog mich immer mehr zurück. Allmählich begann ich mich schulisch anzupassen, damit meine Mitschüler nichts mehr gegen mich sagen konnten. Ich meldete mich im Unterricht nicht mehr, da die Angst zu groß war, eine falsche Antwort sagen zu können. Das fand die halbe Klasse dann doppelt lustig, wenn ich als „Streberin“ etwas Falsches sagte. Natürlich hätte ich mich melden können, wenn ich mir meiner Antwort auf die gestellte Frage sicher war. Aber auch das war scheinbar amüsant für die anderen. Ich glaube, meine Mitschüler hatten immer mehr das Gefühl, dass ich das Lieblingskind meines