1000 Narben. Selina Vögtlin

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Название 1000 Narben
Автор произведения Selina Vögtlin
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783962298456



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kommen, und es wird auch kein Zeichen geben.

      Ich stehe auf und setze mich aufs Sofa im Wohnzimmer. Tablette für Tablette nehme ich in den Mund und spüle sie mit IceTea Zero hinunter.

      Ich bin extrem müde. Es war ein langer Tag, und ich weiß, es wird eine lange Nacht werden. Ich versuche, mich mit dem Fernseher abzulenken und schaue Folge um Folge einer Serie. Tausende Fragen gehen mir schleierhaft durch den Kopf: Wird es diesmal funktionieren? Nimmt mein Körper alle Tabletten auf? Wie schnell wird es passieren? Wird mich jemand finden?

      Und die alles entscheidende Frage für mich in diesem Moment: Werde ich nun sterben und meinen Frieden finden, oder überlebe ich diesen erneuten Suizidversuch und erlange dadurch die nötige Lebenskraft zurück, um weiterzukämpfen?

      Ja… diese letzte Frage hat sich für mich bis zum heutigen Tag, einige Zeit nach diesem Suizidversuch, nicht beantwortet. Ich habe weder meinen Frieden gefunden, noch kam die Lebenskraft so zurück, dass ich bedingungslos begann zu kämpfen.

      Ich ging zwar nochmals in eine Klinik und gab somit meinem Leben auf diese Weise nochmals eine Chance. Ich frage mich auch im Moment recht oft: Warum setze ich nicht alles auf eine Karte? Warum kämpfe ich nicht für ein besseres Leben, welches ich mir schon lange wünsche? Warum gebe ich mir nicht die Chance, alles so zu verändern, dass ich mich wohlfühle? Warum will ich nicht gesund werden? Was habe ich denn zu verlieren?

      Ich denke, wenn man Hoffnung hat auf etwas, besteht die größte Gefahr darin, diese wieder zu verlieren. Vielleicht durch Rückschläge oder Niederlagen. Was passiert, wenn die eigenen Hoffnungen enttäuscht werden? Dann sind sie weg. Wie in Luft aufgelöst. Das ist das große Problem an Hoffnung: Wenn wir sie packen können und aus einer Hoffnung Realität wird, gibt uns das unendlich viel Kraft. Wenn aber dabei etwas schiefgeht, verblasst sie. Die Aufgabe des Menschen ist es, in diesen Situationen neue Kraft für neue Hoffnungen zu schöpfen. Wenn uns das nicht gelingt, sind wir verloren. Denn was ist ein Leben ohne Hoffnung? Das ist kein Leben. Meiner Meinung nach ist es uns Menschen unmöglich, ohne Hoffnung zu leben. Denn eine Hoffnung gibt uns den Sinn im Leben; sie spornt uns an, für etwas zu kämpfen.

      Übertragen auf meine aktuelle Situation, wäre es also nun das Logischste, dass ich meine Hoffnungen in die Tat umsetze. Aber da ist diese Angst; diese riesige Angst, dass ich mich enttäusche, dass etwas schiefgeht und ich meine Hoffnungen verliere.

      Dass ich diese Ängste habe, hat sicherlich seine Gründe. Denn mein früheres Leben war nicht immer von Angst bestimmt.

      Deshalb möchte ich versuchen, mir selbst, aber vor allem auch anderen mit meiner Geschichte zu erklären, warum ich solche Ängste entwickelt habe, was in meinem bisherigen Leben geschah, dass ich immer wieder vor der Frage stehe: „Möchte ich noch leben?“ und warum die Essstörung auch wichtige Dinge in meinem Leben zum Positiven veränderte.

      Diesen letzten Suizidversuch überlebte ich wieder, wie ihr vielleicht bemerkt habt. Es hat nicht wirklich jemand etwas davon mitbekommen; ich wusste, wenn ich es jemandem sagen würde, bringt man mich wiederum auf eine geschlossene Station. Warum dies genauso schädlich für mein weiteres Leben gewesen wäre, werde ich euch in einem anderen Kapitel erläutern.

      Auf jeden Fall überlebte ich, vielleicht auch aus dem Grund, weil ich gar nicht wirklich sterben wollte? Ich weiß es nicht so genau. Was ich weiß, ist, dass ich durch das Überleben nun die Möglichkeit habe, meine Geschichte hier aufzuschreiben, um euch aus meiner Sicht zu schildern, wieso, weshalb, warum mein Leben so verlief, wie es verlief. Dafür müssen wir fast eine kleine Zeitreise machen, denn soweit ich mich erinnern kann, begann alles im Sommer 2010. Dies ist nun über ein Jahrzehnt lang her. Für mich und mein bisheriges Leben eine sehr lange Zeit.

      Damals war ich gerade dreizehn Jahre alt geworden und wusste noch nicht, dass dies für eine lange Zeit der letzte unbeschwerte Sommer werden würde.

      2

      Juli 2010. Zum ersten Mal in meinem Leben stehe ich an einem Flughafen als Passagier. Bald werde ich mit meinen Eltern, meinem Bruder und einer anderen Familie in ein großes Flugzeug steigen. Next stop: London.

      Nein, wir verbringen diesen Sommer nicht in London. Da landen wir nur kurz, steigen in ein noch riesigeres Flugzeug um und fliegen dann etwa sieben Stunden Richtung Westen, in die Vereinigten Staaten. Genauer gesagt nach Miami, Florida. Mein Herz pocht ganz fest, so aufgeregt bin ich.

      Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, was für unglaublich tolle Ferien das sein würden. Ich erlebte dort die beste Zeit meines bisherigen Lebens. Wir waren einfach frei. Ich kann dies wahrscheinlich gar nicht richtig beschreiben. Aber dieses Florida ist im Gegensatz zur Schweiz einfach unendlich weit, unendlich groß und einfach nur beeindruckend. Ich hoffe, ihr versteht dies nun nicht falsch.

      Ich lebe gerne in der Schweiz, aber ich vermisse diese Weite, diese unendliche Freiheit, die langen und breiten Straßen. Das Fliegen hat sicherlich mit dazu beigetragen, dass dies unvergesslich schöne Ferien wurden. Ab dem Zeitpunkt, als das Flugzeug auf der Abflugbahn beschleunigte und nachher dem Himmel entgegen abhob, verliebte ich mich wortwörtlich in das Fliegen. Ich fühlte mich so frei. So ungebunden. So federleicht. Mich fasziniert das bis heute, wie schwerelos man über den Wolken in einem doch so schweren Flugzeug gleiten kann.

      Nicht umsonst gibt es den Liedtext: Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein! Ja, dort oben ist die Freiheit grenzenlos und unbeschränkt. Nach diesem ersten Flugerlebnis, überkam mich auch später immer wieder das Gefühl von bedingungsloser Freiheit, wenn ich in einem Flugzeug saß. Unbeschreiblich!

      Aber nun zurück zu diesen Ferien. Nicht nur das Fliegen, sondern auch das Land selbst waren atemberaubend. Wir erlebten dort mit der anderen Familie zusammen so viele tolle Dinge. Wir besuchten zum Beispiel die Everglades: Da liegen überall Alligatoren herum, und man kann einfach an ihnen vorbeigehen. Wir gingen auch ins Kennedy Space Center, um uns selbst ein Bild über die erste Mondlandung von 1969 zu machen. Es war unglaublich spannend!

      Als krönenden Abschluss dieser tollen Rundreise durch Florida verbrachten wir einen Tag im SeaWorld in Orlando. Eine atemberaubende Unterwasserwelt, viele Shows und einige Achterbahnen erwarteten uns. Mit diesem abwechslungsreichen Tag aus schönen Gefühlen, Adrenalin und viel Freude beendeten wir diese wundervolle Reise durch ein Land, welches mir bis dahin völlig unbekannt war und ab diesem Zeitpunkt ein wenig wie zu einer zweiten Heimat wurde. So wohl habe ich mich da gefühlt. Es fehlte mir an nichts, und ich war einfach nur glücklich! Zur Krönung dieser wunderschönen Ferien kam noch eine neue Bewohnerin zu uns nach Hause. Eine kleine Katze vom Bauernhof. Mein Bruder und ich freuten uns riesig darüber. Dieses Geschöpf war so klein und so tapsig und süß, dass man sich nur verlieben konnte. Aufgefallen sind uns allen gleich die großen, runden Augen der Katze. So lag es nicht weit entfernt, dass wir sie „Luna“ tauften, das italienische Wort für den Mond. Eine echte Bereicherung für unsere Familie!

      ~

      Nicht mal ein Jahr später stand ich vor einer Entscheidung, und ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal, dass es eine Entscheidung war. Alles begann mit einer ersten Bemerkung/ Frage meiner damaligen Englischlehrerin. Sie nahm mich eines Tages nach dem Unterricht zur Seite und fragte mich ganz direkt: „Hast du ein Problem mit dem Essen? Du bist so dünn.“ Ich war, ehrlich gesagt, schockiert über dieser Frage.

      Dazu muss ich vielleicht noch sagen, dass ich schon als Kind und später auch als Jugendliche immer sehr schlank war. Allerdings wäre ich zu dieser Zeit niemals auf die Idee gekommen, dass eine andere Person wegen meiner schlanken Figur darauf kommen könnte, dass ich ein Problem mit dem Essen habe.

      Die Frage dieser Lehrerin verwirrte mich deshalb sehr. Ich antwortete mit: “Nein, ich habe kein Problem mit dem Essen. Mein Vater ist auch so schlank. Das liegt in der Familie.“ Ich denke nicht, dass meine Lehrerin mir Glauben schenkte. Doch ich konnte damals und kann auch jetzt rückblickend versichern, dass ich zu dem Zeitpunkt noch kein Essproblem hatte. Deshalb brachte mich ihre Frage auch dermaßen aus der Fassung.

      Ich erzählte auch meiner Mutter davon. Diese schrieb meiner Lehrerin dann sofort eine E-Mail, in welcher auch sie nochmals versicherte, dass bei mir kein Essproblem und