Название | Brombeerkind |
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Автор произведения | Waltraud Schwab |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783897419339 |
Obwohl diese Frau, Maria F. soll sie heißen, in der Togostraße in Berlin soll sie wohnen, also die Hauptrolle spielt in diesem Zeug, das da aufgeschrieben wird, findet sie nun, dass die Geschichte eines der Mädchen von unten von der Straße – sie meint die Grünäugige, der sie manchmal sogar in einiger Distanz folgt – erzählt werden soll und nicht ihre eigene, die sie für ein paar Momente aus der Fassung gebracht hat.
Aus der Fassung?
Ja.
Sie schaut, als wäre es selbstverständlich, sich so von Worten leiten zu lassen, zur Decke, von der die Glühbirne hängt, zwischen Herd und Schrank, ohne Lampenschirm, weil sie in ihrem Leben, und das dachte sie auch früher schon, keinen Lampenschirm finden wird, der ihr gefällt, da Lampenschirme wie Kraken sind, wie Zumutungen in gefasstem Barock, wie monströse blinde Augen, wie Hüte aus einem längst vergangenen Sommer.
Sie ist jetzt froh, dass sie sich mit dem Gedanken an Lampenschirme ablenken kann. Denn eigentlich will sie, was sie zu sagen hat, einfach sagen, schmucklos wie diese Glühbirne. Nur kann sie es nicht einfach erzählen, weil sie das Ende noch gar nicht kennt.
Aber eines ist klar: Maria F. wird trotz ihrer eigenen Schwäche, die sie erfasste, als sie nach dem Zwiebel schälen zur Schere gegriffen hatte, kein Mitleid mit dem grünäugigen Mädchen haben, zumindest nicht mit Worten.
2
Dieses grünäugige Mädchen also.
Wenn die Teenager um die Bank in der Mitte der Straße, ihrer »To-go-Straße« herumstehen, kichernd, saumselig, alles wissend, Smartphones in den Händen, bleibt sie am Rand. Ihren Kopf hält sie gesenkt, ihre unruhigen Augen indes blicken stets hin und her und nach oben, als wolle sie in alle vier Richtungen gleichzeitig schauen. Das gibt ihr einen katzenhaften Blick. Sie raucht wie die anderen, sie lacht wie die anderen und sie checkt, was passiert. Männer, die etwas aus Lieferwagen ausladen, DHL, Hermes, Möbel Höffner. Autofahrer, die langsamer werden, wenn sie vorbeifahren. Manche hupen, wenn sie die Mädchen sehen. Die schauen kurz auf und dann vernichtend zur Seite. Manchmal winken sie auch. Die Grünäugige winkt nie. Sie schaut auf ihr Smartphone.
Da, eine Nachricht.
»Von wem?«, fragt eines der anderen Mädchen.
»Taifun.«
»Was sagt er?«
»Was ich mache und so.«
Und?
Sie geht. »Tschau, bye-bye, haydi tschüss.«
Das grünäugige Mädchen – ein Viertel Balkan, ein Viertel Antalya, das gesamte osmanische Reich, der Rest Berlin, also ganz Berlin, mit Hugenotten, GIs, polnischen Dienstmädchen, und die Mutter schon tot – schlendert die Straße hoch, checkt die Kreuzung, vor der die Straße verkehrsberuhigt ist, überquert den Platz, auf dem Autos parken, geht dorthin, wo die Jungen abhängen.
Taifun, schlecht gelaunt, steht beim Bolzplatz, raucht, wirft seine Zigarette weg, als er sie sieht, steigt ins Auto, BMW, chic chic, sie steigt auf der anderen Seite ein. Die beiden fahren weg.
Aber Maria F. weiß mehr. Sie hat das gesehen, wenn sie der Grünäugigen folgte und die sich ins Auto setzte, das abseits stand, am Ende der Sackgasse, hinter der der Zaun um den Bolzplatz anfängt, wo keine Häuser mehr sind, ein verrufener Ort, nur ein paar marode Karren stehen da, die später ausgeschlachtet werden. Und wie das Mädchen im Sitz hinunterrutscht, bis sie sie nicht mehr sehen kann.
Maria F. ist unruhig. Sie will mehr sagen, aber sie weiß nicht, ob es richtig ist. Denn das Ganze kann ihr in die Fantasie entgleiten. Da will sie nicht hin. Sie hat sich doch vorgenommen, alles roh zu erzählen, höchstens die Schale abgezogen, wie die einer Orange, einer Banane, einer Zwiebel. Aber nichts an der Erzählung soll angeschwitzt daherkommen, geschwenkt, gekocht. Dieses Mädchen, Jungfrau übrigens, und sie achtet drauf , dass sie das bleibt, ist sowieso nicht die einzige hinten beim Bolzplatz, die sich in ein Auto setzt, dann langsam hinter der Scheibe verschwindet und wieder auftaucht mit rotem, erhitztem Gesicht.
Es hebt die Grünäugige also nicht, sich auf diese Art zu versorgen. Mit Handy, Sündentasche, iPad. Der Kopfhörer hängt ihr selbst im Bett um den Hals. Andere tun es auch, und die Grünäugige beklagt sich nicht. Bei wem auch? Den Lehrerinnen? »Ach Gott, und du weißt doch, und bist du dir sicher, und verbau dir die Zukunft nicht.« Welche Zukunft bitte? Und die Idee, jetzt »Vater« oder »Mutter« zu sagen, ist abwegig, abwegig, abwegig. Paralleluniversen erkennt niemand. Ein Flugzeug fliegt übers Haus.
3
Die Zwiebel liegt noch immer geschält und ungeschnitten auf dem Tisch in Maria F.s Küche. Das Telefon klingelt. Sie geht nicht ran, reibt sich stattdessen die Hände, versucht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, sich ein Essen kochen, ein einfaches, Röstkartoffeln mit Zwiebeln, darüber ein Ei. Sich nähren, sie zwingt sich dazu. Diese Leere, dieses Nichts in ihr soll still bleiben. Es soll nicht wieder vorkommen, dass sie sich an den Tisch setzt, einen Teller vor sich, nichts darauf. Trotzdem isst sie mit Messer und Gabel, zerschneidet die Luft. Nennt es »Luftfleisch«, stellt es sich vor angebraten in Fett, abgelöscht mit Wein, gewürzt mit Knoblauch, Rosmarin, Salbei, und auch das andere stellt sie sich vor, Luftpüree mit Luftsahne, gedünstete Luftartischocken, Thunfischluftmousse, Luftschlangensorbet. Das war, als sie noch dachte, dass es jeden Tag wiederkommen könnte. Hochkommen wie Übelkeit. Mit Unsichtbarem füllte sie sich, wie der Luftgeist es tut – ihr Geheimnis.
Sie reißt sich jetzt zusammen: Kartoffeln mit Ei, das hat Kontur, so will sie auch die Geschichte der Grünäugigen schnörkellos aufschreiben und nichts dazu erfinden. Ein Teenager, Schülerin, noch sechzehn, aber nicht mehr lange, und in der neunten Klasse. Gut, sie und die anderen Mädchen schwänzen manchmal den Unterricht, an schönen Tagen, wenn die Sonne glitzernd durch die noch zarten Frühlingsblätter der Linden scheint, ein zittriges Muster auf alles werfend. Dann sitzen die Mädchen schon morgens auf der Bank zwischen den Bäumen, unweit von Maria F.s Fenster. Die Mappe zwischen den Beinen, das Smartphone in der Hand, den Kopf gesenkt, die Augen gehoben. Als wäre alles ganz normal, ganz einfach.
Aber ha, was ist einfach, wenn man, wie es die Mädchen tun, die Luft nicht einatmet, um sie auszuatmen, sondern jedem Fetzen Duft nachhängt, der wie eine Fährte gelegt ist, und der Klassengeruch ist definitiv nicht, was die Mädchen interessiert.
Ob die Mädchen keine Angst haben, dass jemand sie ansprechen könnte: »Warum seid ihr nicht in der Schule?« Sie, Maria F., könnte die sein, die die Mädchen anspricht. Sie weiß doch, dass sie zur Schule müssen. Nur spricht sie sie nicht an, denn sie kennt die Antwort schon. »Die Stunde ist ausgefallen.« Welche? »Deutsch und Mathe.«
Es sind immer Deutsch und Mathe, die ausfallen. Trotzdem: Addieren kann das grünäugige Mädchen. Besser als die anderen. Sie erzählt ihnen, dass sie dieses T-Shirt mit dem goldenen Vogel, das es bei H&M gibt, kaufen will. Für 17,– Euro. »Was, so viel?«, sagen die Mädchen. Und die Sandalen mit den hohen Absätzen und der goldenen Engelschnalle. Gold, Gold. Die kosten 29,– Euro. »Ja, die sind toll«, sagen die anderen. Und dann rechnen sie, und eine sagt: »Dreiundvierzig Euro«. »Nein, sechsundvierzig«, sagt die Grünäugige. Ihre Tante gebe ihr das Geld. Die mazedonische Tante, in deren Blumenladen sie manchmal hilft. Dass das gelogen ist, ist klar.
Wegen ihres Alters – die anderen sind ein, zwei Jahre jünger als sie – und weil sie Preise addieren kann, ist das grünäugige Mädchen der Star in der Clique. Ihr Wort gilt. Wenn es etwas zu rechnen gibt, muss sie es tun. Nur mit dem Lesen und Schreiben tut sie sich schwer. Darüber wird nicht gesprochen, viele kämpfen mit der Rechtschreibung. Die Lehrerinnen kommen nicht hinterher.
Das grünäugige Mädchen ist brav im Unterricht, so kann sie, glaubt sie jetzt, verhindern, dass jemand sie an den Tod ihrer Mutter erinnert. Sie meldet sich nie, stört nicht. »Wenn ich nichts sag, komm ich überall durch«, sagt sie. Schon in den früheren Klassen waren die Lehrerinnen froh, wenn eine keinen Ärger machte, deshalb mochten sie sie, haben sie durchrutschen lassen, meistens jedenfalls, obwohl die Grünäugige bis heute beim Lesen die Buchstaben