Название | Nebra |
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Автор произведения | Thomas Thiemeyer |
Жанр | Языкознание |
Серия | Hannah Peters |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948093457 |
»Und sie haben nichts Schriftliches hinterlassen.«
»Der Kandidat hat hundert Punkte.« Hannah war froh, endlich das leidige Trennungsthema hinter sich zu lassen und mit ihrer Arbeit fortzufahren. »Wenn wir wenigstens Tontafeln oder etwas Ähnliches hätten. Aber bisher Fehlanzeige. Wenn in dieser Zeit überhaupt etwas geschrieben wurde, dann auf Material, das die Zeit nicht überdauert hat.«
»Das Problem haben wir heute auch«, ergänzte John mit einem ironischen Lächeln. »Bücher, CDs, Zeitungen, nichts davon wird in tausend Jahren noch existieren. Wir werden eine Kultur sein, über die sich kommende Generationen gehörig den Kopf zerbrechen werden – wenn es dann überhaupt noch Menschen gibt.«
»Alles, was wir über sie wissen, müssen wir uns anhand von Grabbeigaben wie Kelchen, Schwertern und Schmuckstücken zusammenreimen. Reichlich wenig, wenn man nicht weiß, wie man diese Objekte interpretieren soll. Stell dir mal vor, in tausend Jahren fände jemand ein Kruzifix. Das Abbild eines Menschen, den man an ein Kreuz genagelt hat. Wahrscheinlich würde man davon ausgehen, einen Verbrecher vor sich zu haben. Warum sonst würde man einen Menschen so leiden lassen? Wer käme schon auf die Idee, dass es sich dabei um Gottes Sohn handelt? Genauso ist es auch bei bronzezeitlichen Abbildungen. Wir können nur raten.«
Seufzend blickte sie auf die Fotografie. Die etwa dreißig Zentimeter große Himmelsscheibe bestand aus grün oxidiertem Kupfer, und ihre Vorderseite stellte einen stilisierten Sternenhimmel aus Blattgold dar. Die Ränder waren punktiert und an manchen Stellen ausgefranst. Insgesamt ließen sich zweiunddreißig Sterne zählen, die ungeordnet über die gesamte Fläche verteilt waren. Hinzu kamen ein sichelförmiger Mond und eine großflächige Scheibe, bei der es sich möglicherweise um die Sonne handelte.
Zwei deutlich abgesetzte Begrenzungsstreifen auf der rechten und linken Hälfte der Scheibe legten die Vermutung nahe, dass dieses Instrument seinerzeit zu Himmelsbeobachtungen benutzt wurde. Am richtigen Standort eingesetzt, markierten sie den Sonnenaufgang beziehungsweise -untergang während der Sonnenwende. Es konnte sich also durchaus um eine Art Kalender handeln, der es ermöglichte, die exakten Jahreszeiten und somit die günstigsten Termine für Aussaat und Ernte festzulegen. Er markierte den Wechsel der Jahreszeiten, der Monate, des Vergangenen und des Künftigen. Ein unermesslicher Schatz für ein Volk, das ohne Uhren und Kalender lebte. Dass es dabei nicht um eine primitive Art von Bauernkalender ging, ließ sich daran ermessen, dass jegliche Form von Kultivierung und Bepflanzung in der frühmenschlichen Mythologie eine tiefe religiöse Bedeutung hatte. Befruchtung, Wachstum, Tod. Der ewige Kreislauf des Lebens. Es war diese Verbindung zwischen Mensch und Kosmos, die in der Himmelsscheibe ihre bildliche Darstellung fand. Und somit stand sie, wie auch derjenige, der sie zu lesen vermochte, in direktem Kontakt mit den Göttern.
»Was ist das?« John deutete auf ein längliches, gebogenes Symbol, das mit den Symbolen für Sonne und Mond ein gleichschenkliges Dreieck bildete. Das Blattgold wurde an dieser Stelle durch parallele Linien strukturiert.
»Das ist einer der Gründe, warum ich hier bin.« Hannah strich sich eine Locke aus dem Gesicht. »Dieses Zeichen hat mich überhaupt auf die Ägypter gebracht. Siehst du, wie dieses gekrümmte Ding zwischen der Sonne und dem Mond hin- und herzufahren scheint?«
John nahm ihr die Fotografie aus der Hand und betrachtete sie aufmerksam. »Könnte eine Sonnenbarke sein. Ein Schiff, das vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang über den Himmel kreuzt«, flüsterte er.
»Genau mein Gedanke«, sagte Hannah. »Sieh mal: Die angedeutete Maserung auf der Seite. Sie unterstreicht den Eindruck von Holz in der Schiffsbeplankung.«
Seine Augen wanderten über jeden Zentimeter der Abbildung. »Hol mich der Teufel«, murmelte er. »Du könntest tatsächlich recht haben. Die Sonnenbarke ist eines der wichtigsten Symbole in der altägyptischen Mythologie. Sollte es wirklich eine Verbindung zwischen den Ägyptern und den Schöpfern der Himmelsscheibe gegeben haben? Aber dazwischen liegen dreitausend Kilometer. Luftlinie, wohlgemerkt.«
»Unvorstellbar, ich weiß.« Hannah lächelte. »Trotzdem. Es müssen irgendwelche Handelsbeziehungen bestanden haben. Eine Theorie, über die schon seit Jahren spekuliert wird. Mit dem Symbol der Sonnenbarke hätten wir den ersten wirklich schlagenden Beweis.«
In Johns Augen begann es zu leuchten. »Deshalb der Tempel der Hatschepsut. Jetzt beginne ich zu verstehen.« Er packte Hannahs Hand und zog sie mit sich fort. »Das, wonach du suchst, ist gleich hier drüben«, sagte er. »Komm.«
3
Ein sanfter Wind strich um die steinernen Pfeiler des alten Tempels. Die Sonne zauberte markante Linien in die staubige Luft, die sich wie Finger in die verborgenen Ecken und Winkel des Heiligtums vortasteten und die steinernen Wände wie etwas Lebendiges erscheinen ließen – wie ein uraltes Fabelwesen, das langsam zu erwachen begann. John spürte die Spannung, die in der Luft lag. Eine jahrtausendealte Kultstätte bei Sonnenaufgang zu erkunden, das war ein unvergleichliches Erlebnis.
»Wie gut kennst du dich in altägyptischer Geschichte aus?«, wandte er sich an Hannah, während er sie tiefer in das Heiligtum führte. »Genauer gesagt: Was weißt du über Hatschepsut?«
»Nicht viel«, erwiderte sie. »Nur dass sie in der achtzehnten Dynastie lebte, vor etwas weniger als dreitausendfünfhundert Jahren also, und dass diese Zeit durch blühenden Wohlstand gekennzeichnet war. Hatschepsut war die einzige Frau, die jemals die Herrschaft als Pharao innehatte.«
»Bemerkenswert, nicht wahr?«, sagte John. »Kurz nach Antritt ihrer Regentschaft ergriff sie die traditionellen Herrschaftsinsignien, darunter den sogenannten Zeremonialbart. Wahrscheinlich auf Druck ihrer Untergebenen, die die Tatsache, dass sie von einer Frau regiert wurden, als untragbar erachteten. In späteren Bildnissen ließ sie sich deshalb nur noch als Mann darstellen.« Er deutete auf die umliegenden Säulenarkaden. »Das hier ist übrigens das bedeutendste Bauwerk, das in ihrer zweiundzwanzigjährigen Herrschaftszeit entstanden ist. Ihr eigener Totentempel.«
Hannah schlang die Arme um sich. Sie schien sich unwohl zu fühlen bei der Vorstellung, wie viele Jahre die Ägypter damals mit dem Gedanken an den eigenen Tod verbracht hatten. Andererseits war der Tempel zu einer Zeit entstanden, als die Menschen den Tod als etwas Willkommenes erachteten, als etwas, vor dem man keine Angst zu haben brauchte. Doch er konnte sie verstehen. Irgendwie hatten Totenkulte immer etwas Beängstigendes.
»Was muss ich noch über sie wissen?«, fragte sie.
»Hatschepsut führte eine für ihre Zeit ungewöhnliche Expedition durch«, sagte John. »Eine Expedition über Land. Dass sie sich auf diesem Weg in eine unbekannte Gegend vorwagten, war außergewöhnlich. Die Ägypter waren ein Volk von Seefahrern und Schiffsbauern. Trotzdem hat die Pharaonin eine solche Expedition ins Leben gerufen. Ein gewaltiges Unterfangen in jener Zeit.«
»Und wohin führte die Reise?«
»Ins Land Punt, vermutlich das heutige Somalia. Von dort brachte die Expedition neben Gold und Edelsteinen auch Weihrauch, Ebenholz sowie eine Fülle exotischer Pflanzen mit. Die Puntreise gilt als die erste botanische Expedition überhaupt.« Er blieb stehen. »Sieh mal dort hinüber.« Er deutete in Richtung Südwesten, auf eine Halle, die ein Stockwerk unter der ihren lag. »Dort drüben findest du Fresken, die ausschließlich von dieser Expedition handeln. Sehr interessant übrigens die Darstellung der Herrscherin von Punt. Sie ist so überdimensioniert und fett dargestellt, dass die Gelehrten heute noch darüber streiten, ob dies eine natürliche Darstellung sein soll.«
»Und nach zweiundzwanzig Jahren Herrschaft starb sie? Einfach so?«
John warf Hannah einen vielsagenden Blick zu. »Natürlich nicht einfach so. Wir reden hier von den Ägyptern.« Er zuckte mit den Schultern. »Nein, vermutlich wurde sie umgebracht. Sie war zu mächtig geworden, und obendrein war sie ja eine Frau. Das passte vielen