Nebra. Thomas Thiemeyer

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Название Nebra
Автор произведения Thomas Thiemeyer
Жанр Языкознание
Серия Hannah Peters
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948093457



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Roman, ja.« Hannah blickte sich um. »Irgendetwas Leichtes, Humorvolles.«

      »Taschenbuch oder gebunden?«

      »Taschenbuch, bitte.«

      Seufzend gab die Frau die Tür frei und kam auf Hannah zu. »Hier drüben haben wir die aktuelle Bestsellerliste. Da ist auch meist etwas Lustiges dabei.«

      Hannah bekreuzigte sich innerlich. Ob ihr Humor mit dem der Buchhändlerin kompatibel war, war mehr als fraglich. Sie gab sich einen Ruck und stellte die Frage, die sie längst hatte stellen wollen: »Wo ist denn eigentlich Ihr Kollege?«

      Die Augen hinter den Brillengläsern wurden noch eine Spur kleiner. »Kollege?«

      »Ja, der große, gutaussehende.«

      »Ich arbeite hier allein.«

      »Sind Sie die Inhaberin?«

      »So ist es. Kempowski mein Name.«

      »Aber wer war dann der Mann, der mich vor etwa zwei Stunden bedient hat? Dunkelhaarig, Brille, markante Narbe unter dem rechten Auge.«

      Die Buchhändlerin zuckte die Schultern. »Kenne ich nicht. Ein Kunde vielleicht. Ich müsste dann jetzt schließen.«

      Völlig verwirrt griff Hannah ins Regal und zog ein Buch heraus, dessen Titel und Umschlag eine einigermaßen unterhaltsame Lektüre verhießen.

      »Dieses hier?« Frau Kempowski nahm ihr das Buch aus der Hand und eilte an die Kasse. Sichtlich erleichtert darüber, die aufdringliche Kundin endlich loszuwerden, kassierte sie und entließ Hannah mit einem ungeduldigen Kopfnicken.

      Draußen vor der Tür warf Hannah einen letzten Blick zurück in den Laden. Wer mochte der Unbekannte gewesen sein? Sie konnte nur hoffen, dass sich ihre Wege noch einmal kreuzten.

       [home]

      11

      Den Dienstag hatte Hannah als Ausflugstag vorgesehen. Gewiss, sie stand unter Zeitdruck, aber auf einen Tag mehr oder weniger kam es nicht an. Es war wichtig, dass sie den Kopf wieder frei bekam. Was also konnte sinnvoller sein, als das herrliche Wetter zu nutzen und eine Wanderung auf den Brocken zu machen? Vielleicht bekam sie auf der höchsten Spitze Norddeutschlands ja eine plötzliche Eingebung?

      Sie fuhr mit dem Auto nach Schierke, beschloss, den Wagen dort abzustellen und den nahen Wanderweg zur Spitze des Brockens zu nehmen. Die Strecke war ebenso schön wie einfach. Genau das Richtige, um abzuschalten. Teils asphaltiert, teils sich über Felsen und Wurzeln schlängelnd, mäanderte dieser wohl bekannteste Wanderweg des Harzes über zehn Kilometer hinweg bis zum Gipfel. Er führte durch moorige Abschnitte und einen märchenhaft anmutenden Fichtenhochwald, vorbei an Bergbächen und Granitfelsen. Hannah spürte, wie sie in der merklich kühler werdenden Luft zu keuchen begann. Damals, als sie noch in der Sahara gelebt und gearbeitet hatte und jeden Tag auf irgendwelche Felsen geklettert war, hätte sie ein solcher Spaziergang nicht aus der Puste gebracht. Jetzt aber musste sie ihre Wanderung mehr als einmal unterbrechen, um sich auf eine Bank oder einen Stein zu setzen, zu verschnaufen und etwas zu trinken beziehungsweise etwas von ihrem Proviant zu verzehren. Zum Glück hatte sie großzügig gepackt, denn als sie nach etwa drei Stunden oben auf der Kuppe anlangte, war von ihrem Vorrat nichts mehr übrig.

      Der Wind zerrte an ihrem leeren Rucksack, als sie die letzten Meter bis zu der Metalltafel zurücklegte, auf der der höchste Punkt des Berges vermerkt war. Elfhundertzweiundvierzig Meter. Kurioserweise hatte sich bei einer Neuvermessung 1990 herausgestellt, dass der Brocken in Wirklichkeit nur knappe elfhunderteinundvierzig Meter hoch war. Eine alarmierende Nachricht, mit der schrecklichen Konsequenz behaftet, unzählige Landkarten neu drucken zu müssen. Man entschied sich dann aber für die kostengünstigere Alternative und spendierte der Kuppe fünf Granitblöcke, die das Niveau anhoben und an denen sich die betreffende Bronzetafel befestigen ließ. So gesehen, war der Brocken ein naher Verwandter des Garth Mountain in Wales, einem Berg, dem englische Kartographen im Jahre 1917 bescheinigt hatten, mit seinen neunhundertfünfundachtzig Fuß nur ein Hügel zu sein. Ein Sakrileg in den Augen der landestreuen Waliser. Ihm fehlten ganze fünfzehn Fuß, um per Definition als Berg durchzugehen. Unter Einbeziehung der Einwohner eines nahe gelegenen Dorfes wurde ein Erdhügel aufgeschüttet, der dem Garth wieder zu seinem Gardemaß verhalf. Eine Initiative, die vom ortsansässigen Pfarrer und dem Bürgermeister ins Leben gerufen worden war.

      Hannah schüttelte im Geiste den Kopf. Männer und ihr Faible für Maße, das war nun wirklich eine unendliche Geschichte. Interessant in diesem Zusammenhang war jedoch, dass der Garth einige sehr interessante Grabstätten aus der frühen bis mittleren Bronzezeit beherbergte, Gräber, die viertausend Jahre alt waren. Ob es wohl um den Brocken ähnlich bestellt war? So abwegig war der Gedanke nicht. Kelten und andere bronzezeitliche Kulturen hatten sich seit jeher exponierte Orte für ihre Kultstätten ausgesucht. Was wäre das für eine Sensation, wenn sich hier ebenfalls Grabanlagen befänden. Grabanlagen, die vielleicht sogar in irgendeinem Zusammenhang mit der Himmelsscheibe standen. Das wäre genau das, was ihren Hals aus der Schlinge retten könnte.

      Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie erst nach einer Weile bemerkte, wie kalt es hier oben war. Das Thermometer in Wernigerode hatte an diesem Morgen fünfzehn Grad in der Sonne angezeigt, hier oben mussten sich die Temperaturen um den Gefrierpunkt bewegen. Trotz ihrer Jacke zitterte sie wie Espenlaub. Solange sie sich bewegt hatte, war die Temperatur kein Problem gewesen, doch jetzt, beim Herumstehen, bohrte sich der Wind durch das Kleidungsstück. Sie beschloss, ihren Aufenthalt hier oben so kurz und so effektiv wie möglich zu gestalten. Ein Blick in jede Himmelsrichtung, ein kurzer Vergleich mit der Karte, ein letzter Gruß an den rotgestreiften Urian, und dann ging es wieder talabwärts. Keinen Moment zu früh, wie Hannah feststellte, denn je weiter sie abstieg, desto mehr Menschen begegneten ihr. Getrieben vom Hunger und in der Hoffnung, in der Brockenherberge noch einen freien Tisch zu ergattern, schoben sich die Massen nach oben. Es begann voll zu werden auf Deutschlands nördlichstem Berg.

      Hannah gönnte sich einen kleinen Abstecher entlang der Heinrichshöhe und der Brockenkinder, einigen sehr malerisch anmutenden Granittürmen. Vom Tal her schnaufte ihr die Brockenbahn entgegen, beladen mit älteren Leuten und Kindern. Die kleine Lokomotive hatte schwer zu tun, denn die Waggons waren gut besetzt. Die ersten schönen Tage in diesem Frühling trieben die Leute in Scharen auf die Spitze. Wohin man sah, überall nur fröhliche, gerötete Gesichter. Alle schienen sich zu amüsieren – alle außer Hannah. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, am heutigen Tag einfach nur auszuspannen, ließ sich der Gedanke, in kurzer Zeit etwas finden zu müssen, das Feldmanns hohen Ansprüchen genügte, einfach nicht abstellen.

      Wenn sie bloß eine Ahnung gehabt hätte, wo sie anfangen sollte.

      Resigniert startete sie den Motor und überließ ihren Parkplatz einem gestresst wirkenden Familienvater und seinen quengelnden Kindern.

       [home]

      12

      Der Abend begann mit einem Meer aus Flammen. Entlang des steilen Anstiegs zum Wernigeroder Schloss waren Fackeln entzündet worden, die das alte Gemäuer und die umliegenden Parkanlagen in ein magisches Licht tauchten. Auf Anraten ihrer Wirtin hatte Hannah sich entschieden, den Abend mit einem Konzert ausklingen zu lassen. Russische Romantik: Borodin, Glinka und Mussorgski. Genau das Richtige für eine sagenumwobene Gegend wie diese.

      Als sie schwer atmend auf der großen Freiterrasse vor dem Schloss ankam und über die Stadt hinweg zum Brocken blickte, bemerkte sie ein merkwürdiges Leuchten, als würde hoch oben ein Feuerwerk abgebrannt. Es sah wunderschön und bedrohlich zugleich aus.

      Hannah wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem bevorstehenden Konzert zu. Sie passierte einen schmalen Durchgang, kaufte sich eine Karte und betrat das Schloss. Das Konzert selbst fand im Innenhof unter freiem Himmel statt. Der bewegliche Baldachin, eine Konstruktion, die Musiker und Zuhörer gleichermaßen