Ausgesoffen. Jörg Böckem

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Название Ausgesoffen
Автор произведения Jörg Böckem
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783898019101



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entstand, wie ich sie noch nie mit einer Frau erlebt hatte. Ich fieberte den Stunden mit ihr entgegen. Im Restaurant spielten sie immer die gleichen Lieder, darunter »Kung Fu Fighting« von Carl Douglas, die Titelmelodie der TV-Serie »Kung Fu« mit David Carradine. Es wurde unser Lied, dass es außer uns niemand für sonderlich romantisch hielt, störte uns nicht weiter.

      Irgendwann sprachen wir auch über Sex. »Der erste Mann, mit dem ich schlafe, sollte Erfahrung haben«, sagte sie. Es sei hilfreich, wenn wenigstens einer von beiden wisse, was er tue. In diesem Moment stieg die Zahl meiner bisherigen Sexualpartnerinnen sprunghaft. Unmöglich, ihr zu sagen, dass ich trotz meiner neunzehn Jahre und bei meinem großspurigen Auftreten noch nie mit einem Mädchen geschlafen hatte! Ich würde mir alle Chancen bei ihr ruinieren. Also log ich. Mit vier oder fünf Frauen sei ich schon im Bett gewesen, sagte ich nebulös. So, als sei die genaue Zahl nicht wichtig. Oder als könne ich die Frauen schon gar nicht mehr zählen, was wohl nicht sonderlich glaubwürdig klang. Ich gab sogar Details aus meinem reichhaltigen, in der Realität allerdings bei Henry Miller, Harold Robbins und in Sexheftchen wie Praline angelesenen Erfahrungsschatz zum Besten. Keine Ahnung, ob ich sie überzeugen konnte.

      Das größte Problem, noch größer als meine mangelnde sexuelle Erfahrung, war Brigittes Freund. Er war Holländer, sie sahen sich selten. Waren sie zusammen, litt ich Höllenqualen. Eines Abends hielt ich es nicht länger aus. Es war Samstagabend, am Freitag hatten Brigitte und ich stundenlang telefoniert. Ich wusste, sie würde die Nacht mit ihrem Holländerfreund in einer Diskothek in Roetgen verbringen. Ich fuhr hin. Es gelang mir, Brigitte aus der Disco zu lotsen. Hinter einer Hecke verborgen fielen wir uns in die Arme und küssten uns, zum ersten Mal. Unaufhaltsam, so schien es mir, waren wir aufeinander zugetrieben, wir gehörten zusammen, daran konnte es keinen Zweifel mehr geben. Auf der anderen Seite der Hecke rief der Holländer ihren Namen, seine Stimme klang dumpf, wie aus einer anderen Welt. Seit diesem Abend waren wir ein Paar.

      Brigitte stammte aus einer wohlhabenden Familie, sie lebte mit ihrem jüngeren Bruder bei ihrer Mutter in einer weitläufigen, stilvoll eingerichteten Villa. Brigittes Vater war ein erfolgreicher Ingenieur gewesen und hatte zu den Honoratioren der Region gehört. Er starb, als sie acht Jahre alt war. An einem Herzinfarkt, im Urlaub mit seiner Geliebten. Diese Tragödie und der daraus resultierende Skandal hatten Brigittes Mutter geprägt, vor allem ihre Einstellung zu Männern. Mich mochte sie nicht. Zugegeben, ich machte es ihr nicht allzu schwer, mich nicht zu mögen. Ich hatte es mir zum Beispiel zur Angewohnheit gemacht, mit meinem Käfer mit hoher Geschwindigkeit in die Einfahrt zu rauschen und dann eine Vollbremsung hinzulegen, die den Kies spritzen ließ. »Da kommt Bernd mit seinem schwarz-gelben Schwanz«, lautete ihr abfälliger Kommentar. Nein, ich war definitiv nicht der Richtige für ihre Tochter. Zu meinem Glück sah Brigitte das anders. Möglich, dass die Ablehnung ihrer Mutter meine Attraktivität in ihren Augen eher noch steigerte.

      Unser erster Sex war schöner, als ich es mir in all meinen hochfliegenden Träumen ausgemalt hatte. Nach Wochen, in denen wir jede freie Minute miteinander verbracht hatten, stundenlang geredet, uns erforscht, angefasst und geküsst hatten, fühlte es sich für uns beide ganz natürlich an, den nächsten Schritt zu gehen, trotz aller Aufregung beinahe selbstverständlich. Nach der Schule fuhren wir zu ihr, um diese Uhrzeit, hofften wir, war niemand im Haus. Das Bett in ihrem Jugendzimmer war ­schmal, aber das störte uns nicht. Wir zogen uns aus, fassten uns an. Mein Herz raste. Meine Großmäuligkeit, all meine angelesene Erfahrung aus Fachmagazinen wie Quick oder Wochenend löste sich auf wie eine Sandburg im Sturm. Das Gefühl der Verschmelzung, ihr so nah zu sein, war überwältigend. Irgendwann hörten wir Schritte auf dem Flur vor ihrer Zimmertür. Aber wir waren in unserer eigenen Welt, zu der niemand Zutritt hatte. Abends entsorgten wir das Laken mit dem verräterischen Blutfleck. Irgendwann, Wochen oder Monate später, fragte Brigitte mich mit einem Lächeln, ob ich doch nicht so viel Erfahrung gehabt hätte, wie ich behauptet hatte.

      Der Sex brachte uns noch enger zusammen. Wir richteten uns gemeinsame Zimmer ein, in der größtmöglichen Entfernung zu unseren Familien. Im Keller ihres Elternhauses und auf dem Dachboden des maroden, unter Denkmalschutz stehenden Fachwerkhauses auf dem Grundstück meiner Eltern. Rückzugsräume, in denen wir als Paar lebten und die nur uns gehörten.

      Kurz vor dem Abitur wurde Brigitte schwanger. Unmöglich, unseren Eltern davon zu erzählen. Diese Schwangerschaft war unser Problem, und wir würden eine Lösung finden. Ein Kind, das wussten wir, würde unsere Zukunftsplanung auf den Kopf stellen. Außerdem waren wir zu jung, sie gerade achtzehn, ich neunzehn, der Verantwortung für ein Kind fühlten wir uns nicht gewachsen. Ich suchte Rat bei der Telefonseelsorge. Und geriet an einen militanten Christen, der uns mit ewiger Verdammnis drohte, sollten wir das Ungeborene abtreiben lassen. Hilfe fanden wir dann bei Pro Familia. Dort gaben sie uns die Adresse eines Arztes in Maastricht. In den Niederlanden war Abtreibung legal, Mitte der Siebziger im Grenzgebiet der einfachste und oft der einzige Weg. Während des Eingriffes saß ich neben ihr, hielt ihre Hand und fühlte mich ihr auch im Schmerz eng verbunden. Kinder, da war ich mir sicher, würden wir später noch haben. Wir würden unser Leben miteinander verbringen, daran gab es für mich keinen Zweifel.

      Nach dem Abitur beaufsichtigte Brigitte in den Sommerferien ehrenamtlich vernachlässigte Kinder aus sozial schwachen Berliner Familien in Ferienlagern des Wohlfahrtsverbandes »Student für Europa – Student für Berlin«. Ich begleitete sie, wann immer ich die Gelegenheit dazu fand. Ich liebte Brigitte. So, wie man vielleicht nur das erste Mal liebt, rauschhaft, kompromisslos, mit unerschütterlicher Gewissheit. Jemals eine andere Frau zu lieben oder auch nur zu begehren schien mir unvorstellbar.

      Das Ende kam schleichend. Ich hatte die Anzeichen nicht erkannt oder nicht erkennen wollen. »Ich habe mich in einen anderen verliebt«, sagte sie. Ich war fassungslos, fühlte mich taub und leer. Meine Welt zerbrach. Sie war meine große Liebe, seit vier Jahren waren wir ein Paar. Unsere Beziehung, unsere Liebe erschien mir wie eine Art Naturgesetz. Wie konnte sie mich verlassen? Unsere gemeinsame Zukunft wegwerfen? Unvorstellbar. Doch sie tat es. Verbannte mich aus ihrem Leben. Schlimmer noch, ich wurde ausgetauscht. Ein anderer nahm meinen Platz ein, das vor allem war mir unerträglich. Dass ich in den vergangenen Monaten unsere Beziehung vernachlässigt hatte, ihre Liebe und Anwesenheit als selbstverständlich angesehen, mehr Zeit beim Sport und mit meinen Kommilitonen an der Universität verbracht und durch meine fehlende Aufmerksamkeit dem anderen möglicherweise erst die Tür geöffnet hatte, erkannte ich erst viel später. Jetzt und hier galt – sie hatte mich betrogen, verraten und tief verletzt.

      Den Verlust und die Verletzung betäubte ich mit Alkohol. Mehr noch, ich suhlte mich in diesem süßen Schmerz, inszenierte und überhöhte ihn. Er wurde zu etwas Dramatischem, Poetischem – so konnte ich ihn besser ertragen. Ich erinnerte mich an die Männer in den Büchern von Henry Miller, Jack Kerouac, Jack London oder Ernest Hemingway. Männer, die ich schon als Teenager bewundert hatte und idealisierte. So wollte ich mich selbst sehen; ein Mann, der die Schläge des Schicksals einsteckt, allen Verletzungen einer feindlichen Welt kämpferisch die Stirn bietet, in heroischer Pose und mit einem Drink in der Hand seinem Untergang ins Auge sieht. Kein trauriger verlassener Verlierer; ich war ein Mann, der sich selbst in seiner romantischen, verlorenen Einsamkeit und seinem Schmerz eingerichtet hat. So sollte Brigitte mich sehen. Meine Traurigkeit, Hilflosigkeit und Verletztheit hingegen zeigte ich niemandem.

      Für einige Wochen trank ich beinahe jeden Abend, bevorzugt vor aller Augen. Eines Nachts stand ich an der Bar des Malteserkellers in Aachen, vor mir auf dem Tresen mein zweites großes Weizenbier und der vierte Ouzo. Als ich sah, dass Brigitte und ihr neuer Freund die Bar betraten, kippte ich den Rest des Bieres mit einem großen Schluck hinunter, fixierte die beiden und warf das Glas mit einer kraftvollen Bewegung an die Wand neben ihnen. Das Klirren übertönte die Musik. Sie würde mich, meinen Schmerz und meine Wut, nicht übersehen, dafür würde ich sorgen. Ein anderes Mal verfolgte ich beide bis zu Brigittes Wohnung. Als ich sah, dass im Schlafzimmer das Licht aufflammte, formte ich einen Schneeball mit einem hühnereigroßen Stein darin und warf ihn wütend mit großer Wucht in das Schlafzimmerfenster, die Scheibe barst mit einem lauten Knall. Sollten sie doch einen Höllenschreck bekommen. Das war das Mindeste, was jemanden erwartete, der mir meine Zukunft stahl. Nie mehr, schwor ich mir, würde ich der Betrogene sein.

      Einige Jahre später zerstach ich der nächsten Frau, die