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von Lorrain, in die ich vernarrt war, Gemälde, auf denen triumphierende und schwermütige Prinzessinnen in der Abenddämmerung an Bord bauchiger Schiffen gingen. Dreißig Jahre später weigerte ich mich, an einer Fernsehsendung über Kinder teilzunehmen, in der ich Literatur empfehlen sollte. »Ich habe dazu nur das eine zu sagen: ›Gebt ihnen Bücher, für die sie noch zu jung sind‹«, antwortete ich dem Journalisten, der mich eingeladen hatte. Mir persönlich ist es damit nicht allzu schlecht ergangen. Kinder haben eine sehr ausgeprägte Moral, sie können sehr gut auseinanderhalten, was gut und was böse, was zulässig und was verwerflich ist. Sie sind unempfänglich für das Perverse und interessieren sich nur für das, was sie wollen. Und vielleicht weckt die Literatur ja ihr ästhetisches Empfinden.

      Der egoistische Leser

      In der Bibliothek meiner Großmama mütterlicherseits standen limitierte Ausgaben in Hülle und Fülle, die sie grands papiers nannte, darunter auch einige handsignierte Werke berühmter Schriftsteller. Das fand ich vornehm, und es steigerte meine ohnehin schon unermessliche Liebe zu dieser Frau. Über Großmutter-Schriftsteller sollte mal jemand ein Buch schreiben. Es gibt Mutter-Schriftsteller wie Albert Cohen. Es gibt Schwester-Schriftsteller wie Flaubert. Es gibt Vater-Schriftsteller wie Stendhal oder Dickens. Es gibt Onkel-Schriftsteller wie Roger Nimier.

      Die Göttergestalt unter den Großmutter-Schriftstellern ist wohl Marcel Proust. Selbst wenn er sein Gelächter hinter dem Ziegenlederhandschuh kaum mehr verstecken kann, während er Zoten zum Besten gibt, ist ihm der wohlwollende Blick einer alten, weißhaarigen Dame gewiss, die streng ist und gütig zugleich und für ihr Leben gern liest. Eben diese Großmutter, nämlich die des Erzählers in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, hat mir nahegebracht, wie reizvoll scheinbar ungewöhnliche Vergleiche sein können. Sie ist diejenige, die eine Ähnlichkeit zwischen Mme de Sévigné und Dostojewski zu erkennen glaubt. Meine brachte mir den Umgang mit wertvollen Büchern bei, deren Code und Verhaltenskodex. Wie die verschiedenen Prägungen auf den ersten Buchseiten zu deuten sind und wie man sie vorsichtig aufschlägt. Hingebungsvoll streichelte ich über das Japanpapier, das sich feiner anfühlte als poliertes Elfenbein. Zu den Schändlichkeiten der heutigen Zeit zählt neben den theokratischen Diktaturen und den Genoziden – wobei, nein, die hat es schon immer gegeben, und da die Gewalt ewig ist und außerordentlich tief im Menschen wohnt, finden die zarten, anrührenden Momente des Lebens gerade an der oft so argwöhnisch beäugten Oberfläche statt, die doch immerhin auch der Ort ist, an dem die Blumen gedeihen, und – ja, ja, ich höre ja schon auf, zu diesen Schändlichkeiten zählt also auch die Tatsache, dass heutzutage kein Japanpapier mehr hergestellt wird. Ich hoffe, dieser Verlust wird durch andere Preziosen aufgewogen.

      Japanpapier war freilich nicht das, worauf ich mich stürzte, wenn ich allein war. Wer liest, muss nicht bibliophil sein, genauso wenig wie ein Bücherliebhaber lesen muss. Man schaue sich nur den Beliebtheitsgrad diverser Schriftsteller an: Georges Duhamel hat aufgrund seiner limitierten Auflagen gerade bei bibliophilen Antiquariaten noch einen hohen Stellenwert, nach dem Urteil der Leser taugt er hingegen nicht mehr viel. Tony Duvert steht bei den Ersten nicht hoch im Kurs, wird aber von Letzteren hochgeschätzt. Ich selbst wollte damals in erster Linie Gedrucktes, das man unterstreichen und dessen Ränder man mit Anmerkungen versehen konnte. Man hatte mir beigebracht, dies sei die beste Art zu lesen, und so ist es auch. Ein Leser ist kein Konsument, der Büchern den Garaus macht, indem er sie verspeist: Wenn man sagt, jemand verschlinge ein Buch, so halte ich dies für ein gewagtes Bild. Ein guter Leser schreibt, während er liest. Er umrandet, streicht durch, kritzelt Kommentare in alle Zwischenräume, die ihm der Buchdrucker gelassen hat. Jeder, dem ich meine Proust- Bände zeige, kann verstehen, warum ich mir regelmäßig neue Ausgaben kaufe. Nicht aus Fetischismus. Ich habe keine andere Wahl. Die Vorsatzblätter und Seitenränder sind gespickt mit meinen Notizen, die wie Regenwürmer in alle Richtungen kriechen und sich bis in die Bundstege hineinwinden; die Zeilen sind unterstrichen, umkringelt, vollgekritzelt. Nicht einmal die Proust’schen paperoles können quantitativ mit meinen Anmerkungen konkurrieren. Ein guter Leser setzt seine Brandzeichen auf die Bücher und nimmt sie damit wie eine Herde in Besitz.

      Vergliche man die Anmerkungen zweier Leser zu ein und demselben Text, würde man erkennen, dass ein Buch keine Skulptur ist, die man sich anschauen kann und die – Katastrophen ausgenommen – ihre ersten Betrachter weit überlebt. Auch wenn ein Buch einen eigenen Sinn, den des Autors hat, nimmt jeder Leser diesen in anderer Weise auf. Dies veranlasste Paul Valéry zu der Bemerkung:

      »Meine Verse haben den Sinn, den man ihnen gibt. Der, den ich ihnen gebe, passt nur für mich und kann vor niemandem geltend gemacht werden. Es ist ein Fehler, der dem Wesen der Poesie zuwiderläuft und sogar tödlich für sie wäre, zu behaupten, dass jedes Gedicht einen wahren, einzigen Sinn hat, der mit dem Denken des Autors identisch ist.«

      Paul Valéry, Kommentar zu Charmes

      Man liest, um die Welt zu verstehen, man liest, um sich selbst zu verstehen. Und wenn man über ein gewisses Maß an Großzügigkeit verfügt, kommt es auch vor, dass man liest, um den Autor zu verstehen. Ich glaube allerdings, dass nur die größten Leser dazu in der Lage sind, und auch sie erst dann, wenn sie die zwei dringendsten Bedürfnisse befriedigt haben: das Verständnis der Welt und der eigenen Person. Lesen bringt Mumien zum Singen, aber deshalb liest man nicht. Man liest nicht für das Buch, man liest für sich selbst. Es gibt nichts Egoistischeres als einen Leser.

      Lesen verändert uns nicht

      Es ist eine beruhigende und zugleich traurige Erfahrung, bei Werken, die man ein zweites Mal liest, die Randbemerkungen der ersten Lektüre mit den aktuellen Anmerkungen zu vergleichen. Ich habe es getan, anfangs eher beiläufig – denn ich bin weder ein so großer Freund noch ein so erbitterter Feind meiner selbst, dass ich beim erneuten Aufschlagen eines Buches sofort prüfe, was ich früher hineingekritzelt habe –, später dann aus Neugier.

      Ich stellte fest, dass ich auch nach Jahren noch annähernd dieselben Passagen unterstreiche. Leider bleiben wir uns selbst immer gleich. Das Lesen verändert uns kaum. Vielleicht veredelt es uns ein bisschen, aber ein Drecksack ist und bleibt ein Drecksack, auch wenn er Racine gelesen hat. Aus einem ungebildeten Drecksack ist dann allenfalls ein aufpolierter Drecksack geworden. Umgekehrt wird ein guter Mensch durch die Lektüre eines bösen Buches nicht zu einem schlechten. Dass Bücher einen schlechten Einfluss haben könnten, ist eine ebenso dumme Mär wie die von ihrem guten Einfluss. Die Vorstellung, Literatur sei moralisch (oder unmoralisch, was aufs Gleiche hinausläuft), ist vielleicht notwendig für deren Überleben in einer Welt, die seit Menschengedenken nur das Nützliche liebt.

      Was glücklicherweise auch bleibt, ist die Frische des Talents, die uns immer wieder Jubelrufe entlockt, selbst wenn wir ein Buch noch so oft gelesen haben.

      Lesen, um sich selbst zu finden

       (ohne sich gesucht zu haben)

      Ein Buch ist nicht für die Leser gemacht, es ist nicht einmal für den Autor gemacht, es ist für niemanden gemacht. Es ist dafür gemacht, zu existieren. Ein für die Leser gemachtes Buch betrachtet seine Leserschaft als Publikum. Folglich wurde es in einer bestimmten Absicht geschrieben, um zu gefallen oder zu überzeugen, herablassend ist beides. Zum einen gegenüber dem instrumentalisierten und somit weniger guten Werk, weil der Autor seinen Gegenstand aus den Augen verloren hat; zum anderen gegenüber den Lesern, die es kränkt, wenn sie merken, dass man ihnen ihre Urteilskraft abspricht. Welch unverfrorene Demagogie! Man will uns mit Sentimentalitäten ködern? Wir schmuggeln uns lieber heimlich in den Kopf des Autors hinein und holen uns selbst das, was wir wollen. Wenn wir uns in einem Buch wiedererkennen, umso besser, aber darum lesen wir es nicht. Egoistisch heißt nicht narzisstisch. Die Freude ist dann umso größer, wenn uns etwas plötzlich rührt. Man muss immer ein wenig diebisch sein, sonst ist das Lesen zu tugendhaft.

      Als ich im Flugzeug diese Zeilen schrieb, machte ich eine Pause, um Thomas Bernhard zu lesen: Der Untergeher, 1983. Übersetzung ins Französische 1986. 1986! Ich hätte sie gleich bei Erscheinen lesen können. Stattdessen tat ich es vierundzwanzig Jahre später,