Träume von Freiheit - Ferner Horizont. Silke Böschen

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Название Träume von Freiheit - Ferner Horizont
Автор произведения Silke Böschen
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839268063



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Selbstmordgedanken? Nein, niemals. Ich habe doch Kinder!« Sie schluchzte. »Das ist ein Komplott. Mein Mann will mich loswerden. Glauben Sie nicht, was auf dem Zettel steht!« Anklagend hob sie die Hand und wollte dem Arzt das Blatt Papier entreißen. Doch die Schwester drängte Adele zur Seite und schob Florence mit ungeahnter Kraft zurück in den Bett-Kasten.

      »Lassen Sie mich los! Dr. Zumpe, da sind Sie ja! Wo bin ich hier? Was soll das?«

      Carl Julius Zumpe trat ein paar Schritte zu ihr. »Frau de Meli, wenn Sie den ersten Schreck verwunden haben, werden Sie sehen, dass Sie hier in Pirna ein schönes Plätzchen gefunden haben, an dem Sie endlich zur Ruhe kommen können.« Er hörte dem Klang seiner eigenen Worte nach und fühlte sich mit einem Mal schäbig. Zum Glück hatte er dem Kutscher Bescheid gegeben, auf ihn zu warten. Lange würde er sich hier nicht aufhalten. Die Sache mit dem Amtsarzt musste er nun doch in Dresden klären. Außerdem hatte er am Nachmittag wieder Sprechstunde.

      Plötzlich ertönte ein lautes Lachen aus dem geöffneten Fenster zum Hof. Das Fenster war vergittert, man konnte es nur einen Spalt weit aufmachen. Florence sah Adele fragend an. Das Lachen wurde lauter und hysterischer. »Da hast du’s, elende Schlampe! Ich werde dir die Haare ausreißen. Jedes Haar ausreißen. Gib mir die Blume zurück!«, kreischte eine Stimme. Die andere Frau, die eben noch gelacht hatte, schrie wie am Spieß.

      »Schwester Käthe, schließen Sie das Fenster!« Der Lärm war nur noch gedämpft zu hören. »Manchmal geraten die Patientinnen in einen Streit. So etwas legt sich aber schnell«, versuchte der Anstaltsarzt, Florence und die entsetzte Adele zu beruhigen. »Keine Sorge, liebe Frau de Meli. Sie sind hier in einer großen Familie angekommen. Die Patienten sind so etwas wie die Kinder in unserem Haus, Schwester Käthe und die anderen Pflegerinnen kümmern sich wie eine Mutter um sie. Sie werden sehen.« Und leiser, kaum zu verstehen, fügte er hinzu: »Es sind alles meine Kinderchen. Und manche von ihnen sind bisweilen etwas unartig.« Er lächelte gedankenverloren. Dr. Zumpe sah den Kollegen verwundert an. Das Schreien von draußen ebbte ab.

      »Ich muss mich um meine eigenen Kinder kümmern. Adele, wir brechen auf!« Florence versuchte, sich aus dem Bett zu schwingen.

      »Na, na, gnädige Frau. So einfach geht das nicht. Wir wollen doch erst einmal gesund werden«, mischte sich Schwester Käthe ein. »Dann freuen sich Ihre Kinder auch viel mehr auf ihre Mutter.« Der Tonfall war süßlich-lauernd. Sie lächelte Florence zu, während sie sie wieder hinter die Holzkante drückte. Die Schwester hatte dünnes blondes Haar, das unter der Haube strähnig aussah. Ihre Haltung war schlecht, das fiel Florence sofort auf. Wie kann eine Frau, die wahrscheinlich noch nicht einmal 30 Jahre alt ist, schon so bucklig dastehen?, dachte sie.

      Die Krankenschwester warf Adele einen kurzen, verächtlichen Blick zu. »Frau de Meli, Ihre Zofe kennt sich in unserem Haus nicht aus. Von nun an werde ich mich um Sie kümmern.«

      »Ich bleibe bei meiner Herrschaft«, entgegnete Adele und stellte sich angriffslustig vor die Wärterin, die nur mit einem höhnischen Lachen antwortete.

      »Das ist die Anordnung von Dr. Lessing.« Sie musterte Adele.

      »Das kann ja sein. Trotzdem. Ich bleibe!« Adele hielt sich am Bettrand fest.

      Schwester Käthe zuckte mit den Achseln. »Das wird Herr Dr. Lessing entscheiden«, antwortete sie und sah ihn mit einem Beifall heischenden Blick an.

      »Jaja, schon gut, Schwester Käthe. Für den Moment kann die junge Frau bleiben. Frau de Meli muss sich schließlich erst eingewöhnen.« Er schwieg kurz, als müsste er nachdenken. »Bringen Sie Frau de Meli in ihr Zimmer. Und dann das Übliche, Sie wissen schon, Käthe …« Die Schwester nickte.

      Florence war fassungslos und ließ sich von der Wärterin in ein anderes Zimmer führen. Adele wich nicht von ihrer Seite.

      Dr. Zumpe schien erleichtert, als die Frauen den Raum verließen. »Bis bald, Frau de Meli. Sie werden sehen, in Sonnenstein wird es Ihnen bald besser gehen«, rief er ihr nach, um wenig später die Kutsche nach Dresden zu besteigen. Die Fahrt kam ihm kürzer vor als auf dem Hinweg. Pirna war nicht aus der Welt, dachte er. Und falls es irgendwann gestattet sein würde, dass die Kinder ihre Mutter besuchten oder der Ehemann, dann wäre es überhaupt kein Problem. Vorerst aber sollte Florence Ruhe haben vor ihrer Familie und dem gesamten Umfeld aus Dresden. Er grübelte. War die Einlieferung medizinisch korrekt gewesen? Ja, gab er sich die Antwort selbst: Die Kuren in Franzensbad und Karlsbad waren wirkungslos geblieben. In Sonnenstein würde man Florence de Meli sicher besser helfen können. Die Anstalt genoss einen hervorragenden Ruf. Dies war eine Psychiatrie auf der Höhe der Zeit. Modernste Behandlungsmethoden in einer Umgebung wie in einem guten Hotel. Billardzimmer für die Herren, Musikdarbietungen, Damensalons, sogar eigene Gärten für die Patienten gab es. Und alles war geordnet: in einen abgetrennten Bereich für die Männer und einen Trakt für die Frauen. Dr. Lessing hielt viel von Tätigkeiten an der frischen Luft. Unkrautjäten, Beete harken, aber auch Handarbeiten, Musizieren und Übungen zur Körperertüchtigung gehörten zum Programm. Hier sollten sich die Patienten beschäftigen, um zu genesen. Dazu Wasseranwendungen, galvanische Strombehandlungen und Mastkuren à la Mitchell. Zumpe kannte den Prospekt beinahe auswendig, so oft hatte er das Faltblatt studiert. Er lehnte sich zurück. Und das Geld von Henri de Meli konnte er gut gebrauchen. Schließlich waren seine Praxisräumlichkeiten in der Wiener Straße alles andere als mondän. Bald schon würde er den Tischler kommen lassen, um eine schöne Holzverkleidung an den Wänden im Warte- und im Behandlungszimmer anbringen zu lassen. Der Gedanke daran machte ihn froh. Es hatte alles seine Richtigkeit.

      Schwester Käthe stieß die Tür zu einem Zimmer auf. Es lag an der Nordseite des neu erbauten Frauenhauses. Hier kam kein Sonnenstrahl durch das Fenster. Adele versuchte, die Vorhänge aufzuziehen, um wenigstens ein wenig Licht in den dunklen Raum zu lassen. Sofort sah sie, dass auch hier Gitterstäbe vor dem Fenster angebracht waren. Schnell zog sie die Vorhänge wieder zurück in ihre ursprüngliche Position, um Florence den Anblick zu ersparen, doch sie hatte es längst gesehen. »Meine Güte, es ist wie in einem Gefängnis. Überall vergitterte Fenster.« Florence schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum machen Sie das?«

      »Ich habe das nicht zu entscheiden. Das haben die Ärzte veranlasst. Aus gutem Grund. Was meinen Sie, wie viele Patientinnen wir hier haben, die lebensmüde sind? So wie Sie! Und dann stürzen sie sich eines Tages aus dem Fenster – und liegen da unten und sind mausetot.« Käthe seufzte theatralisch. »Da ist das hier schon besser. Die Leute sollen doch gesund werden bei uns.«

      Florence überlegte die ganze Zeit, wie sie sich verhalten sollte. Ruhig und gefasst bleiben, um Zeit zu gewinnen und nur ja nicht den Eindruck einer Geisteskranken zu erwecken? Oder laut werden und sich gegen diese ungeheuerliche Verschwörung zur Wehr setzen? Würde man ihr zuhören? Ihr Glauben schenken? Oder wäre es nur ein weiterer Beweis für die Richtigkeit dieses Einlieferungsscheins, den Dr. Zumpe ausgestellt hatte?

      Adele setzte die Reisetasche ab und betrachtete das Zimmer. Es war schlicht eingerichtet. Ein großes Bett, dieses Mal ohne hölzerne Einfassung. Ein kleiner Tisch, zwei Sessel. Sogar ein Damensekretär samt Stuhl stand in der Ecke. Dazu ein Schrank. »So, Frau de Meli, meine Kollegin Mathilde wird gleich kommen mit der Wanne. Und dann werden Sie – so wie alle anderen Patienten hier – erst einmal gewaschen.«

      Jetzt war es doch um Florence’ Fassung geschehen. »Was soll das heißen? Was bilden Sie sich ein? Dass ich verlaust bin? Oder die Krätze habe?« Wütend schrie sie die Schwester an.

      Käthe ging einen Schritt auf sie zu. Ihre Augen wurden noch kleiner, der Mund schmal. »Hören Sie mal, meine Dame, solche Auftritte kenne ich zur Genüge. Es gibt hier Regeln. Die gelten auch für Sie.« Alles Freundliche war aus ihrem Gesicht gewichen. Zurück blieben der bucklige Rücken, das fliehende Kinn und dieser Ausdruck von Verachtung im Gesicht. Florence fühlte sich hilflos.

      Es klopfte. Käthe öffnete die Tür und half ihrer Kollegin, eine mit Wasser gefüllte Zinkwanne auf Rädern ins Zimmer zu rollen. »So, die ist für Sie. Brauchen Sie Hilfe beim Einsteigen?« Käthe warf ihr einen drohenden Blick zu.

      Florence schüttelte den Kopf. »Adele ist bei mir, wir werden das schaffen.«

      Käthe