Niedergetrampelt von Einhörnern. Maelle Gavet

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Название Niedergetrampelt von Einhörnern
Автор произведения Maelle Gavet
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783527835157



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      »Die Menschen werden versuchen, Dich davon zu überzeugen, dass Empathie in Deinem Berufsleben nichts zu suchen hat. Akzeptiere dieses falsche Versprechen niemals!«

      Tim Cook, »Commencement Address« 2017 im MIT (Massachusetts Institute of Technology), traditionelle Rede zur Verleihung des akademischen Abschlusses

      Ich bin zufällig in der Tech-Branche gelandet. Vor fast zwei Jahrzehnten, kurz nach meinem Bachelor-Abschluss in russischer Sprache und Literatur an der Sorbonne in Paris, schrieb ich mich an der ENS Fontenay-St-Cloud ein. Die Absolventen dieser Schule schlagen vielfach eine akademische Laufbahn ein oder klettern die Karriereleiter in Regierungskreisen nach oben. Das war nichts für mich. Also wechselte ich nach einigen Wochen an eine völlig andere Art von Schule: das IEP Paris, besser bekannt als Sciences Po. Mein neuer Studiengang erwies sich als Tor zu einer neuen Welt. Ich tauchte ein in die Welt der Geisteswissenschaften und kam mit Soziologie, Politikwissenschaft, Makro- und Mikroökonomie, Geschichte und so vielen anderen Dingen in Berührung. In vielerlei Hinsicht war es eine Landkarte der Welt.

      Im Laufe der Jahre reifte in mir die Überzeugung, dass wir Führungskräfte der Tech-Branche allzu oft analytische, technische und IQ-basierte Fähigkeiten überbewerten und weniger auf die soziale Vielfalt der emotionalen Intelligenz (EQ) achten. Wir neigen dazu, zu ignorieren, was die Geschichte uns gelehrt hat, blicken herab auf »Soft Skills« und Themen wie Philosophie, Soziologie und Literatur, weil sie keinen lösungsorientierten Ansatz bieten (zumindest in unseren Augen), und ja, jagen auch manchmal eher dem Geld hinterher als dem Wohlergehen der Menschheit. Allzu oft akzeptieren wir den Gedanken, dass das durch unsere Innovationen verursachte Leid der Menschen der Preis für den Fortschritt sei – statt im Vorfeld lange und gründlich darüber nachzudenken, wie die negativen Auswirkungen gänzlich vermieden werden könnten. Dieser unerschütterliche Glauben an die digitale Technologie, diese Blindheit gegenüber den enormen gesellschaftlichen Kosten im Namen der »Vision« und diese Gier sind verantwortlich für die von vielen unserer Unternehmen entwickelten Produkte. Sie nutzen die Schwächen der Menschen und unterwerfen sie der digitalen Technologie, was das Gegenteil von dem ist, was die meisten von uns beabsichtigten.

      An dieser Stelle möchte ich festhalten, dass ich im Großen und Ganzen eine unerschütterliche Optimistin bin. Der technologische Fortschritt hat nahezu auf alle Bereiche positive Auswirkungen: auf unsere Art zu leben, zu arbeiten und unsere Freizeit zu verbringen. Dank maschineller Intelligenz stehen wir vor einer neuen Ära medizinischer Durchbrüche, selbstfahrende Fahrzeuge werden unsere Straßen sicherer machen (auch wenn sie andere Schäden verursachen), die Umweltverschmutzung wird geringer und Städte werden effizienter genutzt werden. Raumfahrt wird keine Science-Fiction mehr sein und allmählich wird der Mensch aufhören, monotone, entwürdigende und körperlich anstrengende Arbeiten selbst zu erledigen.

      Während ich dies hier schreibe und COVID-19 einen großen Teil des Planeten in den Lockdown stürzt – und Amerika als eines der Coronavirus-Epizentren der Welt genannt wird –, offenbart sich das Beste und das Schlechteste der Tech-Branche zugleich. Einerseits wäre das Leben definitiv viel mühsamer ohne Amazon, das uns das Nötigste direkt vor die Haustür legt, ohne Zoom und Skype, um mit unseren Kollegen und Familien zu sprechen, und ohne Netflix für das Streamen von Fernsehprogrammen und Filmen. Andererseits konnte sich innerhalb weniger Minuten eine Flut an Fehlinformationen und manchmal auch gefährlichen Lügen über das Virus per Twitter, Facebook, YouTube etc. rund um den Globus ausbreiten. Einmal mehr offenbarte sich das existenzielle Risiko für Zusteller und Lagerarbeiter, die keinen angemessenen sozialen Schutz genießen und gezwungenermaßen ihre Jobs weiter machen mussten. Sie setzen ihr Leben aufs Spiel – um Essen auf den Tisch zu bringen.