Der Mensch und seine Grammatik. Simon Kasper

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Название Der Mensch und seine Grammatik
Автор произведения Simon Kasper
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823300441



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Schritten und das wiederholte Umschalten zwischen Interpretationen bei der Deutungsarbeit zeigen, dass diese auf den automatischen und routinisierten Aktivitäten und Prozessen aufbaut und auf sie angewiesen ist. Dies lässt sich bereits am Kippbild illustrieren. Wenn wir beispielsweise unseren Blick darauf richten, um daran durch wiederholtes Umschalten Deutungsarbeit zu leisten, können wir nicht vermeiden, dass uns zuerst automatisch entweder die Gesichtsprofile oder der Kelch erscheinen.

      Auch an unserem Umgang mit sogenannten lokalen Mehrdeutigkeitenmehrdeutiglokal in der Sprache lässt sich das beobachten. Oben ist davon die Rede gewesen, dass Mehrdeutigkeiten oft nur dann bemerkt werden, wenn in der Folge etwas schiefgeht. Es ist möglich, dass schon im Laufe der Interpretation einer Äußerung etwas schiefgeht. Sprachliche Äußerungen haben einen Anfang und ein Ende. Sie werden entsprechend sukzessive wahrgenommenWahrnehmung und die herandrängenden Geräusche, Gesten oder Graphen rufen jeweils Vorstellungen hervor und die aufgebaute, komplexe VorstellungVorstellung eines Ereignisses oder einer Situation wird durch jede weitere hereinkommende Information modifiziert. Zugleich erwartenErwartung wir auf Basis dessen, was wir bereits wahrgenommen haben, immer schon, was als nächstes kommen wird. Diese Erwartungen können bestätigt oder verletzt werden. So beginnt die neuhochdeutsche „EinheitsübersetzungEinheitsübersetzung“ von Johannes 19, 27 folgendermaßen:

      Beim sukzessiven, oder inkrementellenOnline-Betrachtungsweise, Interpretieren dieser Teiläußerung bauen wir eine komplexe Vorstellung auf und erwarten weitere Informationen bestimmter Art. Wir werden uns höchstwahrscheinlich den Referenten des Ausdrucks sie (die Mutter Jesu) als die Nehmerin in dieser Äußerung vorstellen,4 weil wir die Form als Nominativ erkennen und sie in einer KongruenzbeziehungKongruenz mit dem Verb steht, und wir werden als weitere Information ein Objekt erwarten, das genommen wird und durch eine Akkusativform ausgedrückt ist. Auch wenn wir solcher grammatischen Beschreibungen unkundig sind, heißt das lediglich, dass wir vielleicht nicht beschreiben können, was wir da tun, tun können wir es aber dennoch. Die aufgebauten ErwartungeErwartungn auf Form- und Vorstellungsebene sind unter anderem durch die bereits erwähnten „-enz-enz-Faktoren“-Faktoren gesteuert: FrequenzFrequenz, RezenzRezenz, PertinenzPertinenz. Nun ist die Vorstellung, die durch (3) hervorgerufen wird, wie wir oben gesehen haben, aber nur so etwas wie eine Annahme, weil die Indizienlage unsicher ist. Sie kann zwar den Nominativ und damit das Subjekt des Satzes repräsentieren, aber auch den Akkusativ, das heißt das direkte Objekt. An der Stelle sie ist die Äußerung in (3) also lokal mehrdeutigmehrdeutiglokal. Wir haben uns für die Nominativlesart „entschieden“. Entschieden steht hier in Anführungszeichen, weil diese „Entscheidung“ im Modus des automatischen oder routinisierten Deutens ausgeführt wurde, dem keine vorgängige Reflexion zugrunde gelegen hat. In der Einheitsübersetzung wird die Äußerung wie folgt zu Ende geführt:

      Hier wird unsere aufgebaute Erwartung eines Objekts, das genommen wird und das durch den Akkusativ ausgedrückt wird, verletzt. Damit hat sich unsere aufgebaute Vorstellung als falsch erwiesen: Die Mutter Jesu ist nicht die Nehmerin. Der Ausdruck der Jünger zwingt uns nun aufgrund seiner eindeutigen Nominativform, unsere bereits aufgebaute Vorstellung davon, was hier womit in welcherWas steht womit in welcher Beziehung? Beziehung steht, zu modifizieren. Wir werden von dieser Nominativform überraschÜberraschungt und sie lässt unseren Deutungsautomatismus oder unsere Deutungsroutine scheitern. Möglicherweise macht uns der Jünger erst darauf aufmerksam, dass sie mehrdeutig zwischen Nominativ und Akkusativ gewesen ist. An diesem Punkt, der die lokale Mehrdeutigkeit auflöst, gehen wir vom Modus des automatischen oder routinisierten Interpretierens in den der Deutungsarbeit über. Das Scheitern unseres Automatismus oder unserer Routine dabei, graphische Symbole in Vorstellungen zu überführen, macht uns auf die Form der Äußerung aufmerksam, Alternativen ihrer Ausdeutung scheinen auf und zwingen uns, mit einigem kognitiven Aufwand – Arbeit – eine modifizierte Vorstellung aufzubauen, nämlich mit umgedrehten Rollen zwischen Maria und dem Jünger.

      Eine solche Reanalyse im alltäglichen Sprachverstehen kann natürlich schneller erfolgen als die linguistische oder philologische Deutungsarbeit, wie wir sie oben an (1) vorgenommen haben. Dennoch teilt sie mehr mit der Deutungsarbeit als mit den Automatismen und Routinen, nämlich die Aspekte des Gewahrwerdens der unterschiedlichen Ausdeutbarkeit des Phänomens und der Reflexion auf die eigene Deutungsaktivität.5

      1.6 Die „W“-Fragen des vorliegenden BuchesW-Fragen

      Das vorliegende Buch stellt den Versuch dar, besser zu verstehen, wie Sprachbenutzerinnen auch angesichts von Mehrdeutigkeitmehrdeutig sprachliche Äußerungen verstehen, das heißt erfolgreich oder richtig interpretieren können. Dafür war es wichtig, darauf hinzuweisen, dass dem Verstehenverstehen sowohl von nichtsprachlichen als auch von sprachlichen Phänomenen (Be-)Deutungstätigkeiten zugrunde liegen, die sich in sehr basalen Aspekten – den W-Fragen im Dienste von WasWas kann ich tun? kann ich (jetzt) tun? – gleichen und sich in anderen Aspekten – der Mehrschichtigkeit von sprachlichen Äußerungen – unterscheiden. Insofern sucht dieses Buch, wie jede Interpretation, Antworten auf die oben genannten W-Fragen.

      Was ist es? Das infragestehende Phänomen kann bereits grob charakterisiert werden. Es sind mehrdeutige Äußerungen auf der einen und die offensichtliche Problemlosigkeit, mit der Sprachbenutzerinnen erfolgreich mit ihnen umgehen, auf der anderen Seite. Dass Sprachbenutzerinnen auch mehrdeutige Sätze verstehen können, ist für sich genommen noch nicht überraschend. Auch Sprachbenutzerinnen, die nicht zugleich professionelle Linguistinnen sind, erklären sich ihre Verstehensfähigkeitenverstehen und berufen sich dabei gern – und durchaus zu Recht – auf den Kontext, anhand dessen alle oder fast alle Äußerungen verstehbar seien. Als Kontext gilt bei dieser nichttechnischen Verwendung des Ausdrucks bald mehr, bald weniger von dem, was in der fraglichen Äußerung nicht zur lexikalischen oder grammatischen Bedeutung gehört und nicht auf Basis der Wörter und ihrer Verknüpfung zuverlässig erschlossen werden kann. Zu diesem Kontext im weiteren Sinne zählen erstens das in vorangegangenen und nachfolgenden Äußerungen grammatisch und lexikalisch Ausgedrückte – der Kotext, zweitens die vielfältigen Faktoren, die die Situation kennzeichnen, in der die Äußerung getätigt und/oder rezipiert wird – der Kontext im engeren Sinne –, und drittens das sogenannte Weltwissen, das heißt das enzyklopädische Wissen über basale, aber auch beispielsweise kulturspezifische Zusammenhänge in der Wirklichkeit, unabhängig von der konkreten Äußerung, ihrem Kotext und Kontext. Auf Basis dieser Informationstypen dürfte tatsächlich so gut wie jede Äußerung im Alltag, sei es in einer face-to-face-Situation oder bei der Lektüre eines Textes, zum Beispiel eines Bibeltextes, für eine kompetente Sprachbenutzerin verstehbar sein.

      Ich möchte in diesem Buch daher eine sehr viel stärkere HypotheseHypothese überprüfenmehrdeutig: Für das Verstehenverstehen von Äußerungen, die hinsichtlich der Frage mehrdeutig sind, was in ihnen womit in welcherWas steht womit in welcher Beziehung? Beziehung steht, sind auf der Seite einer muttersprachlich kompetenten RezipientinRezipientin (kommunikative Rolle) mit normalen kognitiven Fähigkeiten so gut wie keine dieser Informationsquellen erforderlich. Ist sie mit einer grammatisch mehrdeutigen Äußerung konfrontiert, so wird sie fast vollständig ohne Informationen auskommen, die über die infragestehende Äußerung hinausgehen. Hier möchte ich es fürs Erste mit der Präzisierung bewenden lassen, dass die Informationen, auf die die Rezipientin sich stützen kann, aufs Engste mit der BelebtheitshierarchieBelebtheitshierarchie zusammenhängen.1

      Wo ist das Phänomen zu finden? Äußerungen, die mehrdeutig hinsichtlich der Frage sind, was in ihnen womit in welcher Beziehung steht, finden sich überall dort, wo die konventionellenKonvention grammatischen Mittel für den Ausdruck solcher Beziehungen in einer Sprache nicht verfügbar oder trotz prinzipieller VerfügbarkeitHinweisverfügbar unzuverlässigHinweiszuverlässig sind. So sind in Beispiel (1) einige KasusmarkierungenKasus (si beziehungsweise de Jünger) prinzipiell verfügbar, aber bei den vorliegenden Ausdrücken unzuverlässig und die ReihenfolgeReihenfolgesyntaktifiziert zwischen den Ausdrücken