Название | Der Mensch und seine Grammatik |
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Автор произведения | Simon Kasper |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783823300441 |
Für sich ist beispielsweise nicht klar, woher der Vorstellungsinhalt bezogen werden soll. Die Interpretin könnte sich darunter den Jünger, die Mutter, Jesus oder den Referenten von der oder die (als Demonstrativpronomen) vorstellen (a). Zudem käme die Vorstellung des Gegenstandes auch als Kandidat für eine Rolle in der Nehmen-Beziehung in Frage – sowohl des Genommenen als auch im Sinne eines freien Dativs (b). Dadurch wäre nicht klar, was genau die Vorstellung des sich-Gegenstandes schließt (a).
Neben diese Probleme treten die bereits erwähnten bezüglich der Zuordnung von vorsprachlichen Gegenständen und Eventualitäten zu den Einteilungsschablonen, die Sprachen über diese vorsprachlichen Einteilungen stülpen können und die es zwar nicht unwahrscheinlich, aber auch nicht gewissGewissheit der Interpretation erscheinen lassen, dass aus den Eventualitäten des Jüngerseins und Nehmens auf ein Substantiv beziehungsweise Verb zu schließen ist. Würde Jünger als Ausdruck für die Aktivität des Jüngerns interpretiert, veränderte sich die Deutung der Äußerung gewaltig ((a) bis (e)).
Selbst die Illustration dieser Fehldeutungen ist noch eine Vereinfachung. Die Interpretin wüsste ohne ihr Eigenstruktur-Know-how nämlich gar nicht, welche Leistungen die P.K.N.G.MD.TP.D.-Spezifikationen überhaupt erbringen. Die Möglichkeiten, die Äußerung in (4) zu interpretieren, sind somit noch weitaus zu zahlreich für die Interpretin, als dass sie die Äußerung – wenn nicht gerade durch Erraten – erfolgreich interpretieren könnte.
Welches Know-howKnow-how benötigt sie nun, um die Distanz zwischen der privaten Vorstellung des Schreibers und ihrer eigenen zu reduzieren oder, anders ausgedrückt, um nicht bei solchen falschen Interpretationen zu landen, die eben beispielhaft dargestellt wurden? Mein Vorschlag lautet, dieses Know-how als solches über einzelsprachliche Eigenstrukturen zu charakterisieren. Zu diesen gehören wohlgemerkt weder die vorsprachlichen interpretativen Fähigkeiten, noch die Einsicht in die Notwendigkeit symbolischersymbolische Auslagerung Auslagerungen, noch die Fähigkeit, sich auf Basis arbiträrer Entäußerungen etwas vorzustellen. Die Kenntnisse der einzelsprachlichen Eigenstrukturen erlauben es der Interpretin, an bestimmten Äußerungsteilen zuverlässigHinweiszuverlässig zu erkennen, wozu sie sie konkret instruieren.
Wir können die Eigenstruktur schon in den WortartenWortart ausmachen. Die Linguistik wäre eine einfachere Disziplin und das Sprachenlernen eine einfachere Aufgabe, wenn das, was wir schon vorsprachlich als Dinge oder Gegenstände, Aktivitäten, Prozesse und Zustände unterscheiden können, auch konsequent, nachvollziehbar und alternativlos als Dinge oder Gegenstände, Aktivitäten und so weiter versprachlicht würde. Wir könnten das eine lebenswelttreue Wortartenlehre nennen. Dieser Gefallen wird uns nicht getan. Wer schon einmal Heidegger gelesen hat, wird vorsichtig dabei, irgendetwas auszuschließen. „Das Spiegel-Spiel der weltenden Welt entringt als das Gering des Ringes die einigen Vier in das eigene Fügsame, das Ringe ihres Wesens. Aus dem Spiegel-Spiel des Gerings des Ringen ereignet sich das Dingen des Dinges.“1
Es gibt einige Diagnostiken, um die Wortarten in Sprachen zu ermitteln. Sie führen oft zu unterschiedlichen Ergebnissen, auch innerhalb einer Sprache. Was sie aber alle zeigen, ist, dass die Annahme von LebenswelttreueTreue (vs. Sparsamkeit) den sprachlichen Phänomenen nicht gerecht wird. Wir müssen in der Sprache mit Wortarten rechnen, die zumindest teilweise unabhängig von der vorsprachlichen Einteilung in Dinge und Eventualitäten sind. Wer das anerkennt, erkennt damit bereits die Eigenstrukturiertheit einer Sprache an.2
Ich hatte oben bereits versucht, auf der Suche nach einer interpretativen Ankerstelle diesen Anker für unsere Interpretin am Verb zu befestigen, weil es finit ist und damit einen zentralen HinweisHinweis darauf gibt, welche HandlungHandlung der Schreiber mit der Äußerung tätigt und welche Möglichkeiten zur Verwertung der Äußerung die Interpretin hat. Das finite Verb leistet aber noch mehr. Wir können dies in Abbildung 6 daran erkennen, wie viele fette Linien von dem Ausdruck nach oben hin führen. Das heißt, mit dem (finiten) Verb instruiert der Schreiber zu allen Aspekten des Vorstellens und Handelns infolge einer sprachlichen Äußerung. Anhand des Verbs kann die Interpretin die für die Deutung bestimmungsbedürftigen Ausdrücke, die bereits wahrgenommenWahrnehmung wurden, bestimmen (b) und aufgrund des Verbs kann sie diejenigen Bestimmungen im noch folgenden Teil der Äußerung erwarten, die für die Vorstellung nötig sind, zu der das Verb selbst instruiert (a). Durch diese ErwartungErwartungen kann die Ausdeutbarkeit der folgenden Ausdrücke eingeschränkt werden, denn ihre Deutung kann an den Erwartungen ausgerichtet werden, die das Verb hervorruft. Damit ist es der Interpretin möglich, über das Verb die meisten Äußerungsteile interpretativ zusammenzubinden. Es ist allerdings nicht so, dass die Interpretin ohne das (finite) Verb keine irgendwie kohärente Deutung zustandebringen könnte. Was das finite Verb leistet, ist zuverlässigHinweiszuverlässig zu instruieren und zur korrekten Interpretation zu instruieren. Es ist also für die Interpretin angezeigt, nahm zuverlässig als (finites) Verb zu erkennen.
Die Kriterien zur Abgrenzung von anderen WortartenWortart kann die Interpretin nicht allein aus dem Ausdruck selbst gewinnen. Ohne weitere Kenntnisse weiß sie nicht einmal, ob nahm ein Ausdruck, nur ein Teil eines Ausdrucks wie Entnahme oder Vereinnahmung ist oder es gar zwei Teile verschiedener Ausdrücke sind, wie in nah mit jemandem verwandt ist. Sie muss also über die Kenntnisse der WortbildungMorphologie und Flexion verfügen und von den Ausdrücken in der Umgebung auch bereits wissen, ob sie mit nahm einen Ausdruck bilden können oder nicht. Das läuft darauf hinaus, dass sie über diese Ausdrücke auch schon wissen muss, ob sie selbst Wörter oder bloß Wortteile sind. Weiß sie dann, dass nahm ein Wort ist, muss sie wissen, dass es auf eine bestimmte Weise flektiert werden kann und dass die Flexionsweise für Verben sich von derjenigen für Substantive und andere Wortarten darin unterscheidet, was sie jeweils instruktivinstruktive Leistungen leisten. Die Flexive sind auch eine Form von symbolischensymbolische Auslagerung Auslagerungen, die bestimmte vorstellungs- und handlungsbezogene Aspekte von Deutungen anzeigen, aber selbst keine Vorstellungsinhalte ausdrücken. Die Tatsache, dass in Sprachen symbolisch ein- und ausgelagert wird, gehört nicht zur Eigenstruktur einer Sprache, sondern aller Sprachen, aber es gehört sehr wohl zur einzelsprachlichen Eigenstruktur, mit welchen eigensprachlichen Mitteln welche Aspekte in welche Ausdruckstypen ein- und ausgelagert werden.
Die Kenntnisse über die morphologischenMorphologie Eigenschaften von Ausdrücken reichen aber immer noch nicht aus, um sie in jedem Fall als Substantive, Verben, Adjektive und so weiter zu erkennen. Wir können an der Form /'ʃpɪt͡sə/ mit all unserem morphologischen Know-howKnow-how nicht erkennen, ob es sich um ein Verb, ein Substantiv oder ein Adjektiv handelt. Um nahm als Verb zu erkennen, muss die Interpretin neben den verschiedenen morphologischen Formen, die der Ausdruck als Verb annehmen kann, also auch über die Kenntnis darüber verfügen, ob es beispielsweise gleichgestaltige Substantive oder Adjektive gibt. Für nahm kann sie das ausschließen, wenn sie die lexikalischen Lücken im Deutschen kennt, für Jünger kann sie es aber – wenn wir von den graphischen HinweisHinweisgraphischen absehen – nicht ausschließen. Bei Jünger beziehungsweise /'jʏŋɐ/ ist nicht klar, ob der Ausdruck zur Vorstellung eines Gegenstandes instruiert, dem religiöse Anhängerschaft zugeschrieben werden soll, oder dazu, sich einen Gegenstand als geringer im Alter (im Vergleich zu einem anderen) vorzustellen.3 Hier muss die Interpretin also andere Kriterien als morphologische heranziehen.
Hinweise erhält sie daraus, wie die einzelnen Ausdrücke mit ihren jeweiligen morphologischenMorphologie Formen in Äußerungen miteinander kombiniert sind und kombinierbar sind. Wenn wir in der geschriebenen Äußerung in (4), Da nahm der Jünger die Mutter Jesu zu sich …, das Substantiv Jünger durch das komparierte Adjektiv jünger ersetzen, erhalten wir eine Äußerung, die uns hinsichtlich ihrer Interpretierbarkeit verunsichert: Wenn wir davon ausgehen, dass der Schreiber die kodifizierten Regeln der Groß- und Kleinschreibung beherrscht, werden wir die Äußerung als fehlerhaft, als außerhalb dessen liegend betrachten, was in unserer Sprache möglich ist. Das verunsichert uns aber in anderer Weise als das, was in unserer Sprache möglich ist, was wir aber vielleicht dennoch nicht verstehenverstehen