Betsys Brief. Marianne Storberg

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Название Betsys Brief
Автор произведения Marianne Storberg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711446959



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einer gereizten Bewegung versucht er, die Flecken auf der dunkelroten Seidenweste abzutupfen, dann befestigt er die Serviette sorgfältig über der Brust. Er räuspert sich und blickt auf.

      »Der Brief vom norwegischen Militärinstitut ist heute gekommen.«

      Hjalmar erstarrt und muss alle Konzentration aufwenden, um herunterzuschlucken, was er gerade im Mund hat. Der Vater betrachtet seine Zeichnungen bloß als Hobby und Zeitvertreib. Das norwegische Militärinstitut. Das besiegelt wohl sein Schicksal. Die Eltern haben eine militärische Karriere für ihn geplant. Er kneift die Augen zusammen, versucht die Bilder von Rauch, Kanonendonner und verstümmelten Körpern aus seinem Kopf zu verscheuchen. Die Geschichten zu verdrängen, die er gehört hat über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und die Schlacht bei Waterloo.

      »Der Aufnahmeprüfung für die Kavallerie steht nichts mehr im Wege.«

      Schon seit einem ganzen Jahr nagt die Furcht an ihm, überschattet nur von anderen Geschehnissen während der letzten Monate. Nun ist sie also wieder da.

      Er fängt Halfdans Blick auf, der so erfüllt ist von aufgestauten Frustrationen, dass es ihm kalt den Rücken herunterläuft. Besser als jeder andere weiß Halfdan, worum es hier eigentlich geht. Die Geschichte, die niemals aufhört, sich zu wiederholen. All die Manipulationen und Zwänge, die hier ausgeübt werden, sowohl was die Wahl des Berufs als auch die des Ehepartners betrifft. Es herrscht ein Mangel an Respekt, dieses ewige Lächerlichmachen der Künstlerträume. Dabei ist die künstlerische Ader doch eine Gnade, ein Geschenk, und hat in zahlreichen Zusammenhängen so manchen glänzen lassen. Doch Tradition und Vernunft haben Vorrang, sogar wenn man sie ihnen einprügeln muss.

      Sein Hals schnürt sich zusammen, er räuspert sich und gewinnt ein paar Sekunden Zeit.

      »Aha!«

      Halfdan hat aufgehört zu kauen. Mit zusammengebissenen Zähnen sitzt er da und stiert auf den Mahagonitisch hinunter.

      Über irgendetwas muss man wohl reden. Doch das Thema erscheint ihm reichlich deplatziert. Der Vater erwartet sicher keine Antwort, und außerdem bemüht er sich gerade, den heftigen Hustenanfall zu überstehen, der in seiner Brust wütet.

      Wie sehr seine Augen doch glänzen. Und wie grau seine Haut aussieht. Geht es dem Vater womöglich wieder schlechter?

      In ihrem schwarzen Wollkleid sitzt die Mutter gebeugt am Tisch. Sie hat kein Wort gesagt und ihre Mahlzeit kaum angerührt. Jetzt greift sie nach der kleinen Messingglocke und ruft Beate.

      Die klappernden Teller lockern die drückende Stille auf. Ein einfaches Obstkompott als Dessert. Sogar das scheint die Mutter nicht zu reizen, obwohl sie Süßes doch sonst so gerne mag. Mit leerem Blick starrt sie auf die kleine Dessertschale, als ginge sie das alles überhaupt nichts an.

      Es ist Abend geworden, das Mondlicht ergießt sich über die Felskluft draußen. Beate zieht die Vorhänge vor und verschwindet in die Küche.

      »Frau Fougstad hat von der Beerdigung gehört.«

      Erstaunt wendet sich Hjalmar der Mutter zu, die plötzlich das Wort ergriffen hat. »Ach ja? Und was ist damit?«

      Die Mutter stochert in ihrem Kompott.

      »Ja, sie war gestern bei den Colletts. Da wurde wohl davon gesprochen, wie ausnehmend schön die Beerdigung war.«

      Ein trauriges Lächeln, ein ferner Blick.

      »Und ich bin sehr froh, dass wir uns für die schönen Gestecke entschieden haben. Ein paar der Gäste haben die Lilien am Altar kommentiert. Und Frau Hansteen und Frau Fougstad konnten sich an den Schnitzereien auf dem Sargdeckel gar nicht sattsehen.«

      Hjalmar hört Halfdan husten, als säße etwas in seinem Hals fest.

      Er selbst hat beschlossen, den Tag zu vergessen. Er musste es zur eigenen Selbsterhaltung, mit den Erinnerungen an Idas Beerdigung kann er nicht weiterleben. Das Gewicht auf der Schulter, der schwere Sarg, der sich durch die dünne Jacke ins Schlüsselbein grub, Halfdan, der mit schleppenden Schritten vor ihm durch den Schnee stapfte, das weiße Schneetreiben, als sie sich, gefolgt von dem schwarz gekleideten, stummen Trauerzug gen Friedhof wandten. Die Erinnerungen müssen fort, müssen in eine dichte und verschließbare Kiste eingesperrt und an einem geheimen Ort verborgen werden, zu dem er keinen Zugang hat.

      Er faltet die Hände im Schoß und schickt ein Gebet zum Himmel, dass die Ausführungen der Mutter bald beendet sein mögen, doch sie spricht weiter, ins Leere hinein, nur zu sich selbst, als nähme sie niemanden wahr.

      »Aber dass er nicht da war, dass musste ja ein Gesprächsthema werden. Ich begreife es einfach nicht. Frau Fougstad hat irgendwo gehört, er sei zu Møller auf Gut Thorsø gefahren.«

      Nach einer langen Pause schüttelt sie resigniert den Kopf.

      »Dass er uns das antun konnte.«

      Jetzt meldet sich der Vater vom anderen Ende des Tisches.

      »Herrgott, Elisabeth, es spielt doch keine Rolle, was dieser Mann macht. Warum kannst du nicht aufhören, ihn in unserem Hause ständig zu erwähnen? Kannst du das nicht einfach lassen? Johan Sebastian Welhaven geht uns nichts an.«

      Die letzten Worte werden mit soviel Nachdruck und so laut ausgesprochen, dass die Mutter einen Blick in Richtung Küchentür wirft, um sich zu vergewissern, dass sie auch ordentlich geschlossen ist. Es gibt schließlich Grenzen für das, was man über die engste Familie hinaus mit anderen teilen möchte.

      Hjalmar späht zu Halfdan hinüber und weiß, dass er dasselbe denkt. Die glänzenden Augen des Vaters sind beunruhigend. Und die Krankheit stimmt ihn nicht gerade milder.

      So vergehen ein paar weitere Tage. Wenn er aufsteht, weiß er nicht, wie er den Tag überstehen soll, und wenn der Abend kommt, ist er allein und rastlos, doch ganz ohne Antrieb.

      Bis Weihnachten sind es noch vier Tage. Natürlich erwartet niemand, dass die Familie gerade jetzt am gesellschaftlichen Leben der Stadt teilnimmt, die Einladungen strömen jedoch trotzdem in dieses Trauerhaus, und sei es auch nur aus Höflichkeit.

      An den Vormittagen bleibt Hjalmar im Wohnzimmer sitzen und blättert die Einladungen durch. Alle sind hübsch geschmückt mit Goldrand, Siegel und Seidenband. Im Laufe der kurzen Vorweihnachtstage ist in der Hauptstadt so einiges geplant. Soiréen und Theatervorstellungen, ein Hauskonzert bei Morgenstierne, eine Teegesellschaft bei Colletts, Punsch bei Hansteens und ein Diner bei der Komtesse Knuth und natürlich der legendäre Neujahrsball bei Familie Sibberen.

      Er hält eine Einladung der Familie Richards in der Hand, für heute Abend, den 20. Dezember. In schmuckvollen Lettern steht da geschrieben: Willkommen zum Weihnachtsball.

      Im letzten Jahr, nachdem er achtzehn geworden war, durfte er zum ersten Mal mitkommen. Er kann sich noch gut erinnern, zumindest an den ersten Teil des Abends. Trotz einiger Bedenken hatte man ihm erlaubt, mit Halfdan und Regnald zu gehen. Bevor sie losfuhren, hatte er lange vor dem Spiegel gestanden, das Haar zu einem Seitenscheitel frisiert, sich dann aber umentschieden und den Pony in die Stirn gekämmt. Die Jacke war plötzlich an den Armen viel zu kurz, in letzter Sekunde bekam er eine von Halfdan, mit schwarzem Samt an den Aufschlägen, sie passte perfekt. Als sie aufbrachen, zitterte er vor freudiger Erwartung. Endlich sollte er erleben, worüber die Brüder sonst sprachen. Die Frauen. Die Musik. Ankers waren dagewesen, er hatte ein reizendes Schwesternpaar kennengelernt, und er erinnert sich an Camilla, Bernhard und Emilie. Er hatte getanzt, bis er Blasen an den Füßen hatte und von der Tanzfläche hinken musste. Den ganzen Heimweg über hatte Halfdan ihn aufgezogen oder eigentlich nur versucht ihn aufzuziehen. Denn obwohl er ein wenig getrunken hatte, war es nicht schwer zu verstehen gewesen, dass Halfdan bloß neidisch war. Sein älterer Bruder hatte den ganzen Abend kaum getanzt, hatte bloß in einer Ecke herumgestanden und sich mit Welhaven, Schweigaard und Asbjørnsen angeregt unterhalten.

      Die tief über dem Fjord stehende Dezembersonne blendet ihn. Aus dem Stockwerk unten hört er, dass Halfdan sich ans Klavier gesetzt hat. Das ist gut so.

      Die Mutter hat sich wieder hingelegt, gleich nach dem Frühstück hat sie sich zurückgezogen.