Название | Mind the Gap |
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Автор произведения | Christina Hansen |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783706561068 |
Eben diese kritische Reflexion etwaiger Anschlussstellen zur Gegenwart sind aber erforderlich, soll das Erinnern nicht zur hohlen Phrase, zum bloßen Ritual verkommen: „Erinnern erstarrt dann zu Gedenken, wenn der Bezug zur Gegenwart gekappt wird und sich rhetorische Muster etablieren, die nichts mehr mit Reflexion, sondern nur noch mit Repräsentation zu tun haben.“4 so der Historiker Peter Pirkner in einem Interview. Das „Gedächtnistheater“ bietet entsprechend weder die Möglichkeit einer kritischen Reflexion gegenwärtiger Relevanz, noch wird es dem historischen Ereignis gerecht, wie der israelische Soziologe Natan Sznaider bemerkt: „Wenn Gedenken derart ritualisiert wird, hat es mit dem historischen Ereignis nichts mehr zu tun.“5 Sznaider zufolge mehre sich das Wissen zum historischen Ereignis durch derartige Gedenkrituale nicht, ganz im Gegenteil. Folgt man seinen Ansichten wohne jeder Erinnerung, jeder Form des Gedenkens bereits eine Art Instrumentalisierung inne.6 Welche Begründungslinien teils ins Feld geführt werden, wenn es um die Rahmenbedingungen und Grenzen einer derartigen Instrumentalisierung geht, zeigen die Reaktionen auf die nachvollziehbarerweise mehr als umstrittene Aktion des Künstler*innen-Kollektivs „Zentrum für Politische Schönheit“. Mitglieder haben nach eigenen Angaben die menschlichen Überreste von Holocaust-Opfern in Deutschland, Polen und der Ukraine ausgegraben, die zum Teil in Dämmen verbaut oder auf Feldern verscharrt wurden, um diese in eine temporäre Gedenkstätte einzugießen, die im Dezember 2019 zwischen Bundestag und Bundeskanzleramt installiert wurde. Unter dem Headliner „Sucht uns“ konnte auf einer eigens eingerichteten Homepage für die Refinanzierung des Mahnmals gespendet werden – je nach Gusto und Höhe der Spende wurden dort neben Büchern und T-Shirts auch so genannte „Schwurwürfel“ mit Erdproben als Dankeschön versendet.7 Ziel der Kampagne war ein gegenwartsbezogener Appell, der nach Aussage der Initiator*innen unter anderem vor einer erneuten Kooperation zwischen Konservativen und faschistischen Kräften warnen sollte.8 Die Rückmeldungen aus der jüdischen Community fielen hinsichtlich deren Pluralität erwartungsgemäß divers aus. Einzelmeinungen reichten von mehr oder weniger neutralem Verständnis, beispielsweise durch Comedian Shahak Shapira,9 bis hin zu eindeutiger Kritik an deutscher Erinnerungskultur. So twitterte beispielsweise der Berliner Schriftsteller Max Czollek: „Mit toten Jüdinnen und Juden kann man machen, was man für richtig hält – als Erinnerungsweltmeister macht man es ohnehin richtig. Wozu die Lebenden fragen?“10, Laura Cazés kritisiert in einem Post die Instrumentalisierung ermordeter Jüdinnen und Juden als „Projektionsfläche vor der Kulisse des ewig ritualisierten ‚Nie wieder‘.“11 Die Positionierung von Überlebenden-Verbänden und Bildungsstätten fiel wiederum recht einheitlich aus: Das Internationale Auschwitz-Komitee (IAK) vermittelte die Bestürzung vieler Auschwitz-Überlebender, die die ewige Totenruhe verletzt sahen.12 Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, bewertete die Kunstaktion als geschmacklos und grundfalsch: „Die Nachfahren der Täter werden wieder Täter, die Nachfahren der Opfer wieder Opfer.“13 Nach wenigen Tagen folgten ein entschuldigendes Statement des Kollektivs sowie die Verhüllung des Mahnmals – ein Großteil der in den Kommentarspalten und Stellungnahmen aufgeworfenen Fragen blieben damit allerdings unbeantwortet.
Darf Kunst das, mag man sich zum Beispiel fragen? Heiligt der wohlmeinende Zweck tatsächlich die Mittel und seien diese noch so pietätlos? Und wenn ja, wer darf das? Neben dieser Frage nach Betroffenheit und Perspektive warf die befremdliche Aktion zudem einmal mehr die Frage danach auf, ob Erinnerungsarbeit respektive die Deutung historischer Ereignisse überhaupt genutzt werden kann oder darf, um zu einer Reflexion menschlichen Handelns und Zusammenlebens in der Gegenwart zu befähigen und wie dies generell gelingen kann, ohne dass dabei der konkrete historische Kontext zur austauschbaren Deutungsfolie gestempelt wird und ohne ins Fahrwasser schlichter Repräsentation zu geraten. Kurzum – und das beschäftigt uns im vorliegenden Band insbesondere: Wie kann es gelingen, aus Geschichte zu lernen, ohne diese zu verfälschen und ohne den Blick auf den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext zu verzerren? Und: Welche unterschiedlichen Perspektiven gilt es hierbei zu berücksichtigen, wenn es beispielsweise um die Themenfelder des historischen Nationalsozialismus, des Holocaust und der NS-“Euthanasie“ geht?
Vor dieser Herausforderung steht nicht nur das öffentliche, institutionalisierte Gedenken. Auch und insbesondere schulische und außerschulische Bildungseinrichtungen, Lehrkräfte und Hochschulen sehen sich mit Fragen nach Relevanz und adäquaten Rahmenbedingungen einer reflektierten, multiperspektivischen und zukunftsfähigen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust konfrontiert. Das gilt insbesondere auch in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft, deren Mitglieder nicht per se über ihre eigenen Familiengeschichten in das historische Ereignis des Holocaust eingebunden sind.
Auch die vorliegende Veröffentlichung setzt an diesen Fragestellungen und Anforderungen an Lehrer*innen-Bildung an und diskutiert sie jeweils aus unterschiedlichen fachlichen und institutionellen Perspektiven. Der Sammelband ist im Nachgang zur multidisziplinären Tagung „Holocaust Education in der Lehrer*innen-Bildung“ entstanden, die am 25. 01. 2018 am Klinikum Mainkofen stattgefunden hat. Der Ort des Symposiums war in mehrerlei Hinsicht bewusst gewählt. Die ehemalige Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen, ihr historischer Hintergrund und vor allem auch die Entstehungsgeschichte der Gedenkstätte, die dort in den letzten Jahren auf die Initiative des aktuellen Klinikleiters Gerhard Schneider und mit der Unterstützung engagierter Angehöriger implementiert werden konnte, zeigen mehr als deutlich auf, wie wesentlich kritisches Erinnern die Zielrichtung der damit in Verbindung stehenden Vermittlungsarbeit beeinflusst. Erst in den letzten Jahren und gegen vielfältige Widerstände hinweg konnte Mainkofen als Ort nationalsozialistischer Verbrechen markiert und konnten Täter offen benannt werden, konnte den Opfern und deren Angehörigen ein würdevolles Gedenken ermöglicht und den Nachgeborenen ein Anstoß zur Reflexion gegeben werden.
Mainkofen ist ein place of crime der NS-Eugenik. Hier und an anderen historischen Tatorten, die im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik stehen, wurde mit dem Universalismus der Menschheitsidee gebrochen. Hier wurden Hilfsbedürftige, Kranke, Menschen mit Behinderungen und Diagnosen als vermeintlich Minderwertige gestempelt und aus dem gesellschaftlichen Leben per Einweisung oder Zwangssterilisation ausgeschlossen, mehr noch: von hier aus wurden sie als Lebensunwerte per Kreuz in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz deportiert und zur industriellen Vernichtung freigegeben. Vor dem Hintergrund dieser historischen Aussortierung „des ‚Anderen‘, des ‚Abweichlers‘ und der ‚Verwerflichen‘“14 beschäftigt der Historiker und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Peter Steinbach, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, sich in seinem Beitrag unter anderem mit der Frage, inwiefern eine historische Bearbeitung der „Lebensvernichtung“ auch mit ethischen Dimensionen verbunden werden kann und muss, insofern als dass normative Richtlinien menschlichen Handelns und Zusammenlebens eine Deutung kollektiver historischer Erfahrung darstellen und gibt Hinweise zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit dem ideologischen Gehalt der im Nationalsozialismus gebräuchlichen Begrifflichkeiten.
Im anschließenden Interview mit Christina Hansen ermöglicht Klinikleiter und Gedenkstätteninitiator