Die Unsichtbaren. Roy Jacobsen

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Название Die Unsichtbaren
Автор произведения Roy Jacobsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711449653



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und die Häuser angestrichen sind und so dicht nebeneinander stehen, dass man ohne Mantel von einem zum anderen gehen kann.

      Barbro will niemanden außer Ingrid an der Hand halten, denn sie weiß, was geschehen wird, und sie bleibt vor dem Laden stehen, und alle Blicke richten sich auf sie, die Inselbewohnerinnen, sie sind hier an Land so selten zu sehen.

      Ingrid ist fein angezogen, mit blauem Kleid und grauer Strickjacke, mit grünen Eiskristallen an Kragen und Ärmeln. Barbro trägt ein gelbes Kleid und eine Friesjacke, die zu kurz ist, sie sagt, sie will Kandiszucker.

      Hans ist ihr nachgelaufen und sagt ja, sie kann Kandiszucker bekommen. Aber nach dem Besuch im Laden will sie nicht weiter zum Hof gehen, wo die Hausfrau, Gretha Sabina Tommesen, versprochen hat, sie als Magd einzustellen, wenn es sie nicht mehr kostet als das Essen und ein Bett. Hans und Maria müssen Barbro weiterschleppen, während Ingrid ganz hinten geht und verstohlene Blicke auf die Kinderschar wirft, die ihnen in einiger Entfernung folgt. Sie hat schon einige von ihnen gesehen, aber nur kurz, in der Kirche und im Dorf, sie weiß den Namen von zweien, erkennt vier Gesichter, aber keins davon lächelt, und sie starrt nicht lange hin, dann läuft sie hinter den anderen her in den Garten, der das weiße Haus mit der schweren dunklen Füllungstür umgibt, die sich nun öffnet und sie in einen anderen Erdteil eintreten lässt.

      Aber dort schafft es Gretha Sabina Tommesen, Barbro dreimal »die Idiotin« zu nennen, während sie die Kammer zeigt, in der Barbro zusammen mit der anderen Magd schlafen soll, die ebenfalls von den Inseln stammt, nur ist sie viel jünger als Barbro. Sie erklärt, dass die Idiotin damit rechnen muss, zur Handelsstation geholt zu werden, wenn der Hering kommt, und sei es mitten in der Nacht, wie alle Frauen im Haus.

      »Kannse Fisch ausnehmen?«

      »Sicher«, sagt Maria. »Se kann auch kochen und karden und spinnen und Socken stricken ...«

      »Isse reinlich?«

      »Das sehnse doch.«

      »Verstehst du, was ich sage, Barbro«, ruft sie Barbro zu, die nickt und zu einer Kristalllampe hochschaut, die über ihrem Kopf hängt, ein Sternenhimmel, in dem die Augen so tief versinken, dass sie dort bleiben und der Nacken steif wird. Als nun Gretha Sabina Tommesen zu Maria sagt, dass die Schwägerin nicht damit rechnen darf, andere Kleider zu bekommen, als sie selbst mitgebracht hat, sieht Hans die Schwester an – deren Blick noch immer auf das neue Sonnensystem gerichtet ist – und fasst einen Entschluss, nimmt sie an der einen Hand und ihren kleinen Koffer in die andere und geht wieder hinaus, macht auch jetzt den Umweg zum Laden und wartet, bis Maria und Ingrid sie eingeholt haben.

      Die Eheleute wechseln einen Blick. Er nickt zur Tür hinüber. Sie nickt zurück. Sie gehen hinein und kaufen Zucker und Kaffee, zwei Packungen vierzöllige Nägel, einen Eimer Teer, Sago, Zimt, ein Fässchen Grobsalz, bestellen drei große Säcke Roggenmehl, die in vier Tagen abgeholt werden sollen, und gehen mit ihren Waren wieder hinaus und zum Anleger und steigen in ihr Boot und setzen Segel.

      Über der See hängt ein feiner Dunst.

      Aber Hans kann seine Schwester nicht ansehen. Er setzt sich auf die andere Seite der Ruderpinne, um das Segel zwischen sich und sie zu bringen. Aber deshalb ist er ja nicht Marias Blick entzogen, sie ist siebenundzwanzig Jahre alt, sie ist stark und kommt von einer anderen Insel, sie hat die Haushaltsschule besucht und hätte überall einen Dienst finden können, aber sie ist auf Barrøy, bei ihm, Hans Barrøy, der fünfunddreißig ist, als er hier versteckt sitzt, vor seiner eigenen Schwester und einer ärgerlichen Scham, sie gehören beide eng zusammen, Scham und Versteck, aber weiterhin ist er Marias Blick ausgesetzt, und der wird nicht weichen, bis Hans zugibt, dass er ein Trottel ist, ein Nicken würde reichen. Dann richtet sie ihren Blick auf die Wellen und hat dieses ärgerliche Lächeln auf den Lippen, das sie nur noch unbesiegbarer macht.

      Der alte Martin steht am Steg und nimmt sie mit schrillem Lachen in Empfang.

      »Hab ich’s nich gleich gesacht!«

      Er watet auf sie zu, hebt den Koffer an Land und führt seine Tochter zu den Häusern, während Ingrid nebenherläuft und vom Dorf erzählt, bis ihre Stimme im Geschrei der Möwen untergeht. Maria und Hans bleiben am Steg stehen und überlegen, ob sie die Karre holen oder die Einkäufe nach oben tragen sollen.

      »Das könnwa doch sicher tragen?«

      Sie geht vor ihm her. Er lässt die Einkäufe fallen und packt sie bei den Hüften und wirft sie in das hohe Gras, wo nicht einmal Gott sie beide sehen oder Marias halbersticktes Geheul hören kann, und wie sie ihm allerlei Namen gibt, während sie wieder dieses Lächeln hat, das vorhin noch in die Wellen gerichtet war, jetzt hat er es eigentlich wieder hochgeholt. Und danach haben sie keine Lust, weiterzugehen, sondern bleiben liegen und schauen in den Himmel, während sie von einem Tag erzählt, als sie ein Kind auf Buøy war und ein Stall unter dem vielen Schnee auf dem Dach zusammenbrach. Er hört zu und fragt sich, worauf sie wohl hinauswill, wie er das immer tut, was meint Maria und worauf will sie hinaus. Bis Ingrid plötzlich über ihnen steht und fragt, wo sie denn bleiben, Barbro will wissen, was es zu essen geben soll, Hering oder Köhler oder den fetten Butt, den der Vater gestern erwischt hat.

      »Ich schneid den Butt klein«, sagt er und erhebt sich und holt doch die Karre und lädt die Einkäufe darauf, und Ingrid noch dazu, und schiebt die Karre bergauf, während Maria liegen bleibt. Sie ist die Philosophin auf der Insel, die mit dem schrägen Blick, da sie von einer anderen Insel kommt und Vergleiche hat, das nennt sich Erfahrung oder sogar Klugheit, aber es kann ihr auch ein gespaltenes Gemüt geben, es kommt darauf an, wie verschieden die Inseln sind.

      5

      Sie haben drei Weiden auf Barrøy, vier Birken und fünf Ebereschen, eine davon ist knorrig und in der Mitte rund wie eine Tonne und heißt die Alte Esche, und alle zwölf neigen sich in die Richtung, die die Natur ihnen auferlegt hat.

      Auf einer Felskuppe im Westen gibt es auch ein paar kleinere unscheinbare Birken, sie stehen da und halten einander wie umarmt und werden das Liebeswäldchen genannt, spreizen sich indes in alle Richtungen, wenn der Wind bläst.

      Darüber hinaus haben sie eine mächtige Weide, die fast flach am Boden liegt und seit ewigen Zeiten so gelebt hat, auf den Knien, auf der Grenze zwischen Rosengarten und Busengarten. Die Vorfahren haben die Steinmauer in einem Bogen um die Weide herumgebaut, anstatt sie zu fällen. Es ist anscheinend der einzige Baum auf der Insel, der nicht gefällt werden kann. Auch fällen sie nicht die anderen, obwohl Holz kostbar und notwendig ist, doch manchmal kommt ihnen der Gedanke. Niemals allerdings denkt jemand daran, die Weide auf der Grenze zwischen den beiden Gärten zu fällen, in gewisser Weise ist sie dort, wo sie liegt, schon gefällt, und somit befriedet, wie ein Grab.

      In den größten Ebereschen am Haus hängen mächtige Elsternester. Oft verfluchen die Inselbewohner die Elstern, weil sie stehlen und alles vollscheißen, sie reden davon, die Nester herunterzureißen. Aber auch daraus wird nichts.

      Wenn dann die aus Zweigen gebauten Nester im Kampf mit einem weiteren Sturm schwanken und überleben, nehmen die Menschen mit stoischer Erleichterung zur Kenntnis, dass auch dieses Mal nichts zerstört wurde, gleichwohl geschieht es häufig.

      Wenn Regen oder Schnee einmal senkrecht herunterfallen, bilden sich trockene Kreise im Gras unter den Nestern in der Alten Esche. Dort drängen sich dann die Schafe aneinander.

      Besonders die Lämmer scheuen den Regen, sie erleichtern sich gemäß der Natur, so bildet sich ein schwarzer und morastiger Lebenszirkel unter jedem Nest, alles hängt mit allem zusammen, wie ein Mensch nicht in zwei Hälften zerfällt, obwohl er sich vornüberbeugt.

      Genauso ist es auf den tausend anderen Inseln des Archipels.

      Den zehntausend Inseln.

      Da die Landschaft so offen und ungeschützt daliegt, könnte wohl jemand auf den Gedanken kommen, die Küste in ein immergrünes Gewand zu kleiden, Kiefern oder Fichten zum Beispiel, könnte überall im Königreich idealistische Baumschulen errichten und beginnen, große Mengen winziger Fichten zu verschiffen und sie den Bewohnern der kleinen und großen Inseln kostenlos zu übereignen, und sagen, dass Generationen nach ihnen über Brennstoff