Weiter als der Ozean. Carrie Turansky

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Название Weiter als der Ozean
Автор произведения Carrie Turansky
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783961224623



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London bleiben muss. Die Vorstellung, dass meine Geschwister gezwungen sind, in einem Kinderheim zu wohnen, ist für mich unerträglich.“

      „Meine Mutter ist eine mitfühlende Person, besonders wenn es um die Not von Kindern geht. Sie wird das bestimmt verstehen.“ Er zog die Brauen hoch und beobachtete sie erwartungsvoll.

      Wenn die Bitte von ihrem Sohn käme, wäre Mrs Frasier vielleicht eher gewogen, Laura zu erlauben, sich für längere Zeit frei zu nehmen. Dann könnte sie nach London fahren und ihrer Familie helfen, ohne befürchten zu müssen, dass sie ihren Arbeitsplatz verlor. Und sie wäre auch weit genug von Andrew Frasier weg und müsste sich keine Sorgen machen, dass sie ihm gegenüber zu irgendetwas verpflichtet war.

      Sie hob den Blick. „Einverstanden. Wenn Sie mit ihr sprechen, wäre ich Ihnen dafür sehr dankbar.“

      „Das tue ich sehr gerne.“ Er überlegte einen Moment. „Ich bewundere Ihre Hingabe an Ihre Familie“, sagte er dann, griff in seine Tasche und zog eine Visitenkarte heraus. „Das ist die Adresse unserer Kanzlei in London. Dort bin ich ab Dienstag wieder zu erreichen. Falls Sie Hilfe brauchen, scheuen Sie sich bitte nicht, zu mir zu kommen.“

      Laura warf einen Blick auf die Visitenkarte. Sie hatte kein Geld, um einen Anwalt zu bezahlen. Was würde er als Gegenleistung für seine Dienste von ihr erwarten? Der Stein in ihrem Magen war sofort wieder da.

      „Ich habe Kontakte zu Leuten, die Kinderheime leiten“, fuhr Andrew fort, während er ihr immer noch die Visitenkarte hinhielt. „Meine Familie hat Dr. Barnardo unterstützt, und ich habe einige Veranstaltungen von ihm besucht. Vielleicht könnte ich herausfinden, wie es um Ihre Geschwister steht.“

      Diese Bemerkung bewog sie, in seinen Vorschlag einzuwilligen. Sie streckte langsam die Hand aus und nahm seine Karte. Es war vielleicht ein Fehler, aber sie würde fast alles tun, um ihren Geschwistern zu helfen. Sie warf einen Blick auf die Adresse, aber der Straßenname sagte ihr nichts. Zweifellos befand sich seine Kanzlei in einem Stadtviertel, in das sie normalerweise nicht kam.

      Sie bedankte sich murmelnd und steckte die Karte in ihre Schürzentasche. „Ich muss jetzt wieder an die Arbeit gehen.“

      Er nickte. „Meine Mutter hat gerade Besuch, aber sobald sie wieder allein ist, werde ich mit ihr sprechen. Dann können Sie hoffentlich Ihre Taschen packen und noch heute nach London aufbrechen.“

      „Danke, Sir.“ Sie machte einen Knicks und marschierte auf den Dienstboteneingang zu.

      Andrew Frasier schien ein anständiger Mann mit ehrbaren Absichten zu sein, aber das hatte sie von Simon Harrington am Anfang auch gedacht. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, wäre mehr nötig als ein paar freundliche Worte und das Angebot, ihr zu helfen.

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      Katie hielt Grace fest an der Hand und folgte den anderen Mädchen die Steintreppe des Grangeford-Kinderheims für arme und mittellose Kinder hinab. 173 Mädchen im Alter von fünf bis sechzehn Jahren waren in dem dreistöckigen Ziegelgebäude untergebracht. Katie rieb sich die Arme und versuchte, die Kälte zu vertreiben, während die Schritte der Mädchen im Treppenhaus widerhallten. Grangeford war ein kalter, düsterer Ort, aber sie bekamen drei Mahlzeiten am Tag, und jedes Mädchen hatte ein eigenes Bett. Wenigstens hatten sie und Grace Betten nebeneinander bekommen.

      Als sie hier angekommen waren, hatten sie zwei schlichte braune Kleider bekommen. Darüber trugen sie beigegraue Schürzen, damit die Kleider sauber blieben. Obwohl sie Essen und Kleidung bekamen, war es ganz anders als zu Hause. Alles war fremd und anders. Katie hatte Mühe, sich an das Leben hier zu gewöhnen. Jeden Tag hatte sie das Gefühl, einen furchtbaren Albtraum zu durchleben, der nie enden würde. Wenn sie nur aufwachen und wieder in ihrer Wohnung über der Schneiderei sein könnte, wo sie die Liebe und Zuneigung ihrer Mutter erfuhr.

      Grace sah mit ernstem, blassem Gesicht zu ihr hoch. Die grauen Schatten unter ihren Augen verrieten, dass sie schlecht geschlafen hatte. „Glaubst du, Mama kommt heute?“

      Katies Herz fühlte sich an wie ein schwerer Stein in ihrer Brust, aber sie zwang sich zu einem schwachen Lächeln. „Ich hoffe es.“

      Es war ihr fünfter Tag in Grangeford. Seit sie hier waren, hatten sie weder von ihrer Mutter noch von Mrs Graham etwas gehört. Und mit jedem Sonnenuntergang schwand auch die Hoffnung, dass Mama wieder gesund werden und sie nach Hause holen würde.

      Lebte Mama noch? Das war die Frage, die Katie jede wache Stunde beschäftigte und die sie nachts vom Schlafen abhielt. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken, und sie versuchte, diese beängstigende Frage zu verdrängen. Falls ihre Mutter gestorben wäre, hätte man es ihnen doch bestimmt mitgeteilt. Dass sie nichts gehört hatten, bedeutete hoffentlich, dass Mama noch im Krankenhaus war und wieder gesund werden würde. Dann würde sie herkommen und sie nach Hause holen, damit sie alle wieder zusammen sein konnten.

      „Nicht so langsam, Mädchen!“ Mrs Hastings, die Assistentin der Heimleiterin, hielt unten an der Treppe die Tür auf, durch die Katie, Grace und zig andere Mädchen in einer geordneten Reihe strömten. Als das letzte Mädchen draußen war, schloss die Frau die Tür und drehte sich zu den Kindern um. „Sammelt Stöcke und legt sie in die Holzkisten dort neben dem Schuppen!“ Sie deutete über den weiten Rasen zu einem kleinen, getünchten Schuppen in der Nähe des hohen Holzzauns.

      Ein nächtlicher Windsturm hatte den Rasen mit Zweigen übersät, die von den großen Bäumen, die das Gelände umgaben, abgebrochen waren. Es war das zweite Mal, dass sie hinausgeschickt wurden, um Brennholz zu sammeln. Katie hatte nichts gegen diese Arbeit. Stöcke und Zweige zu sammeln war eine angenehme Abwechslung zum Fegen, Putzen und Staubwischen im Haus.

      Mit einem müden Seufzen ließ Grace Katies Hand los und stapfte über den Rasen. Sie hob ein paar kleine Zweige auf und sammelte sie in ihrer Schürze. Katie folgte ihr. Sie nahm einige der größeren Zweige und zog sie über den Rasen zum Schuppen.

      Hinter dem Zaun waren Jungenstimmen zu hören. Katie hob den Blick, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. War Garth vielleicht auf der anderen Seite dieses Zauns? Sie waren voneinander getrennt worden, sobald sie hier angekommen waren. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Aber man hatte ihr gesagt, dass alle Jungen in dem Gebäude auf der anderen Zaunseite untergebracht waren. Als sie Mrs Hastings gefragt hatte, ob sie mit Garth sprechen könne, hatte die Frau streng die Stirn gerunzelt und erwidert: „Jungen und Mädchen ist es nicht erlaubt, miteinander zu sprechen.“

      „Aber er ist mein Zwillingsbruder. Warum dürfen wir nicht miteinander sprechen?“

      Die Frau kniff die Augen zusammen. „Hüte deine Zunge, junges Fräulein! Im Grangeford-Kinderheim wollen wir keine frechen Sprüche hören!“

      Bei dieser unangenehmen Erinnerung verzog Katie das Gesicht und warf die Zweige, die sie gesammelt hatte, in die Kiste. Die Jungenstimmen waren wieder zu hören. Sie warf einen Blick über die Schulter. Niemand sah in ihre Richtung. Schnell huschte sie hinter den Schuppen und betrachtete den hohen Holzzaun. Wenn sie nur hinüberschauen könnte! Vielleicht würde sie Garth auf der anderen Seite sehen.

      Direkt über ihrem Kopf entdeckte sie ein kleines Astloch und fasste einen Plan. Sie schlich wieder auf die andere Seite des Schuppens zurück, nahm eine leere Kiste und zog sie bis zum Zaun. Direkt unter dem Astloch drehte sie die Kiste um und stieg darauf. Jetzt konnte sie durch das Loch spähen.

      Mehrere Jungen liefen über den Rasen und sahen aus, als würden sie Fangen spielen, während einige andere einfach herumstanden. Katie betrachtete ihre Gesichter, und ihr Herz schlug höher. Garth stand ungefähr zwanzig Meter von ihr entfernt und unterhielt sich mit einem anderen Jungen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete das Spiel. Er trug eine ihr unbekannte braune Kniebundhose, einen grauen Pullover und eine braune Kappe.

      Sie hätte so gern seinen Namen gerufen, aber wer gegen die Regeln verstieß, wurde schwer bestraft, und sie wollte nicht, dass Garth Prügel bekäme, weil er mit ihr sprach. Trotzdem musste es eine Möglichkeit geben, ihn wissen zu lassen, dass sie hier war.

      Sie biss sich auf die Lippe. Bitte, Herr, lass ihn näher kommen.

      „Was