Weiter als der Ozean. Carrie Turansky

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Название Weiter als der Ozean
Автор произведения Carrie Turansky
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783961224623



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er ihn fast zu Boden warf. Er entschuldigte sich und lief weiter. Wir merkten erst, dass er Bertrams Brieftasche gestohlen hatte, als wir später den Taxifahrer bezahlen wollten und feststellten, dass wir kein Geld hatten!“ Sie schaute in die Gesichter am Tisch. „Grauenhaft, dass sich anständige Menschen in bestimmten Stadtvierteln nicht bewegen können, ohne von Vagabunden und Dieben belästigt zu werden!“

      „Sie sollten das ganze Pack ins Gefängnis sperren!“ Bertram fuchtelte so vehement mit der Hand, dass er beinahe sein Wasserglas umstieß.

      Vater runzelte die Stirn. „Es gibt nicht genug Gefängnisse, um Londons Kanalratten alle unterzubringen.“

      Andrews Mutter runzelte die Stirn. „George, wie kannst du sie so bezeichnen? Sie sind doch noch Kinder.“

      „Mir ist egal, wie alt sie sind. Sie sind eine Plage, und man sollte die Straßen von ihnen befreien.“

      Tante Eloise nickte heftig. „Das sehe ich ganz genauso. Es muss etwas unternommen werden!“

      „Diese kleinen Diebe sind nicht besser als ihre Eltern“, schimpfte sein Vater weiter. „Nur aufgrund ihres Alters sollten wir kein Mitleid mit ihnen haben. Einmal Dieb, immer Dieb.“

      Andrew ballte unter dem Tisch die Fäuste. „Kinder, die sich nicht anders zu helfen wissen, als zu stehlen, tun das nur, weil die Erwachsenen, die für sie verantwortlich sind, ihre Pflichten vernachlässigen. Du kannst den Kindern doch keinen Vorwurf aus ihrem Hunger oder ihrer Armut machen. Wo sind ihre Mütter und Väter?“

      „Das sehe ich genauso“, bestätigte seine Mutter. „Die meisten dieser Kinder haben kein Zuhause und keine Familie, die sich um sie kümmert. Haben sie denn eine andere Wahl?“

      Sein Vater schob angriffslustig das Kinn vor. „Obdachlos oder nicht, Stehlen ist keine Lösung.“

      Seiner Mutter stieg das Blut in die Wangen. „Und das Gefängnis auch nicht!“

      „Was sollte man dann tun?“ Tante Eloise ließ ihren Blick in die Runde wandern. „Wenn sie Verbrechen begehen, bleibt der Polizei doch keine andere Wahl, als sie zu verhaften und einzusperren.“

      „Es gibt eine andere Lösung“, entgegnete Andrews Mutter. „Ich finde, man sollte sie nach Kräften unterstützen.“

      „Und wie sollte das aussehen?“, fragte sein Vater.

      „Es gibt Heime für diese Kinder. Zum Beispiel die Heime, die Dr. Barnardo gegründet hat. Sie holen Jungen und Mädchen aus den Fabriken und von der Straße und ermöglichen ihnen, sich auf ein nützliches, produktives Leben vorzubereiten.“

      Tante Eloise rümpfte die Nase. „Ich glaube nicht, dass Dr. Barnardo ein ehrbarer Gentleman war. Ich habe gehört, dass es gegen diesen Mann und seine Arbeit verschiedene Anklagen gab. Er stand immer wieder wegen des einen oder anderen Problems vor Gericht. Wie kannst du so jemanden unterstützen?“

      „Er war umstritten, aber ich habe ihn sprechen gehört“, erwiderte Mutter. „Ich war sehr beeindruckt. Er hatte einen tiefen Glauben, und es war ihm ein großes Anliegen, Kindern zu helfen. Er vertrat den Standpunkt, dass kein Kind ein hoffnungsloser Fall ist.“

      Vaters dunkle Brauen zogen sich zusammen. „Du hast eine Veranstaltung von Barnardo besucht?“

      „Ja. Wir haben ihn in Cliffside gehört. Nach seiner Rede folgte ein herzerwärmender Auftritt von einigen Kindern, die er in einem Heim aufgenommen hat. Sie haben gesungen, und mit was für bezaubernden Stimmen. Mir kamen fast die Tränen. Das hättet ihr hören müssen.“

      Sein Vater sah auf und knurrte: „Wann war das denn?“

      „Vor ein paar Jahren, als du bei einem Jagdausflug warst.“

      „Solche Veranstaltungen solltest du nicht besuchen. Dort drücken sie nur auf die Tränendrüse, um an dein Geld heranzukommen.“

      Andrew richtete sich auf seinem Stuhl auf. „Es muss aber etwas unternommen werden, um diesen Kindern zu helfen. Statt gemütlich am Tisch zu sitzen und über das Problem zu diskutieren, wurde Dr. Barnardo aktiv und hat Tausende arme und mittellose Kinder von den Straßen geholt. Du musst doch zugeben, Vater, dass das eine lobenswerte Sache ist, die wir unterstützen sollten.“

      Das Gesicht seines Vaters verriet dessen Gereiztheit. „Ich sehe nur einen selbstgerechten Mann, der versucht hat, seinen eigenen Ruf zu fördern, indem er diese Kinder vor einem zahlungskräftigen Publikum vorführte. Er hat kein anderes Ziel verfolgt, als genug Geld zu sammeln, um Werbung für sich zu machen.“ Sein finsterer Blick richtete sich auf seine Frau. „Der Mann war ein Scharlatan. Ich will nicht, dass du mit seiner Stiftung noch irgendetwas zu tun hast.“

      „George, du hast diesen Mann doch nie selbst gesehen. Wie kannst du ihn so scharf verurteilen?“

      „Ich weiß genug über ihn und seinesgleichen. Und ich verbiete dir, solche Veranstaltungen zu besuchen!“

      Seine Mutter öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber sein Vater hob die Hand. „Das Thema ist erledigt. Ich will nichts mehr davon hören!“

      Andrew biss die Zähne zusammen. In ihm kochte der Zorn. Er hatte genug davon, seinem Vater zuzuhören. Zu diesem Thema und zu jedem anderen. Je früher er Bolton verließ und sich der Kontrolle seines Vaters entzog, umso besser. Er bedauerte nur, dass er seine Mutter im Stich ließ und sie sich allein mit seinem Vater auseinandersetzen musste.

      Wie hatte sie es geschafft, schon so viele Jahre seinen Egoismus und seine zornigen Ausfälle zu ertragen? Sie hatte ihre Freundinnen, ihre Kirchengemeinde und die wohltätigen Organisationen, die sie unterstützte. Darauf konnte sie ihre Energie verwenden. Und sie hatte ihren Glauben, der ihr Kraft gab. Aber genügte das? Andrew würde so oft wie möglich herkommen müssen, um sie aufzumuntern und ihr zu versichern, wie viel ihm an ihr lag.

      

      Laura versuchte, sich mit ihrem Schirm vor Wind und Regen zu schützen, während sie durch die Rushley Lane eilte. Sie hob den Blick und suchte die Gebäude nach Haus Nummer 326 ab. Ob vor dem Grangeford-Kinderheim für arme und mittellose Kinder wohl ein Namensschild hing? Allein schon bei diesem Namen wurde ihr schwer ums Herz. Ihre Familie war zwar nicht vermögend, aber sie waren reich an Liebe. Und sie hielten fest zusammen.

      Regentropfen spritzten um ihre Füße und machten ihren Rocksaum und ihren Mantel nass. Bei dem stürmischen Wind war ihr Schirm fast nutzlos. Sie wischte sich das Wasser von der Wange, einige kalte Tropfen liefen ihr hinten in den Kragen. Sie erschauerte und marschierte entschlossen weiter. Trotz der Kälte und Nässe wollte sie sich durch nichts davon abbringen lassen, ihre Geschwister zu suchen und sie zu erinnern, dass ihre Familie sie liebte und nicht vergessen hatte.

      Nach dem Besuch bei ihrem Bruder und ihren beiden Schwestern wollte sie auf die andere Seite der Stadt fahren, um ihre Mutter im Krankenhaus zu besuchen. Eine Nachricht von Garth, Katie und Grace würde die Stimmung ihrer Mutter sicher aufhellen und deren Genesung beschleunigen.

      An der Seite eines dreistöckigen Ziegelgebäudes entdeckte sie ein verblasstes Schild mit dem Namen des Kinderheims. Sie fasste neuen Mut, der jedoch sofort wieder schwand. Ein einschüchternder Eisenzaun mit einem geschlossenen Tor umgab das Gelände. Sie nahm ihren Schirm in die andere Hand und zog am Griff, aber das Tor ging nicht auf.

      Ihr Blick fiel auf eine kurze Schnur, an deren Ende eine Glocke befestigt war. Sie zog daran. Als niemand kam, zog sie noch einmal an der Schnur, während sie unter ihrem tropfenden Schirm vor Kälte bibberte.

      Schließlich kam ein alter Mann in einem Regenmantel auf sie zu. Das Wasser in den Pfützen auf dem Schotterweg spritzte unter seinen Schritten auf. „Kann ich Ihnen helfen, Miss?“

      „Ja, danke. Ich möchte meinen Bruder und meine Schwestern besuchen.“

      Der Mann zog die Brauen hoch. Dann runzelte er leicht die Stirn und warf einen Blick über seine Schulter auf das Gebäude. „Das ist ein Mädchenheim. Ihre Schwestern sind vielleicht hier, aber Ihr Bruder müsste im Jungenheim sein. Es befindet sich gleich hinter dem Zaun und diesen Bäumen dort.“