Paul Janes und die Fliege am Torpfosten. Michael Bolten

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Название Paul Janes und die Fliege am Torpfosten
Автор произведения Michael Bolten
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783895338618



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Läufers, bei der 1:3-Halbfinalniederlage gegen die Tschechen Paul Zielinski. Vor der Partie gegen die Tschechen agierte der verletzte Paul Janes als Fahnenträger beim Einmarsch des deutschen Teams ins römische Stadion. Da für den bis dahin als rechter Verteidiger eingesetzten Haringer die WM nach dem Ausscheiden im Semifinale beendet war, kehrte der inzwischen wieder genesene Janes zum Spiel um den dritten Platz gegen die Profis aus Österreich in die Startelf zurück. Er selbst nannte die Berufung durch Trainer Nerz schicksalhaft, denn er stand das erste Mal als rechter Verteidiger in der Nationalmannschaft, und dies bildete die Basis seiner „späteren vielfachen Verwendung als Standardverteidiger“.102 Neben Janes als rechtem Verteidiger kam der nachträglich nach Italien beorderte Reinhold Münzenberg als Stopper zu seinem ersten WM-Einsatz, und Szepan durfte in den Sturm vorrücken.

      Zunächst musste die deutsche Equipe aber nach Neapel reisen, denn dort fand das kleine WM-Finale statt. So verbrachte die deutsche Mannschaft traumhafte Tage im Hotel Cocumella in Sorrent, einem Ferienort in Kampanien. Dass es sich für die Spieler in erster Linie um Urlaub handelte, bestätigte Ernst Lehner: „Hier haben wir, nur einmal ‚gestört‘ durch unser Spiel um den dritten Platz, von Montag bis Samstag noch eine herrliche Woche wunschlosen Glücklichseins verbracht.“103 Die Störung fand am 7. Juni 1934 statt und hieß Deutschland gegen Österreich. In der deutschen Presse wurde vom Duell zweier „volksdeutscher Mannschaften“ gesprochen.104 Die Mannschaft Österreichs, die ohne den verletzten Matthias Sindelar antreten musste, galt als klarer Favorit. Dies lag nicht nur an den Ergebnissen der beiden letzten Länderspiele gegen den Nachbarn aus Deutschland, die die Österreicher mit 5:0 (am 13. September 1931 in Wien) und 6:0 (am 24. Mai 1931 in Berlin) für sich entschieden. Die Profis unter ihrem Trainer Hugo Meisl galten zudem als „Wunderteam“, weil sie ebenfalls 1931 die Schotten auf dem Festland besiegten und Ende 1932 ehrenvoll mit 3:4 im Mutterland des Fußballs an der Londoner Stamford Bridge den Engländern unterlagen. Auch Paul Janes hatte seine schlechten Erfahrungen mit dem österreichischen Fußball gemacht. Am 1. Mai 1932 gastierte Austria Wien bei der Düsseldorfer Fortuna. Die Wiener demonstrierten ihre hohe Fußballkunst und besiegten eine in Bestbesetzung angetretene Fortuna mit 7:2.

      Bevor es an jenem heißen Abend in Neapel aber losgehen konnte, musste erst eine Mannschaft das Trikot wechseln: Beide Teams wollten in ihren traditionellen weißen Jerseys zur jeweils schwarzen Hose antreten. Somit wären sie für die nur rund 7.000 Zuschauer kaum zu unterscheiden gewesen. Nach langem Palaver mit dem italienischen Schiedsrichter Carraro entschied das Los – gegen die Österreicher. Sie liefen zwar noch mit ihren weißen Hemden ins Stadion ein, zogen sich dann aber die blauen Trikots des SSC Neapel über, da keine eigenen Ausweichtrikots vorhanden waren. Mit beinahe halbstündiger Verspätung begann die Partie.105

      Der zu seiner Freude im Sturm eingesetzte Kapitän Szepan gewann gegen seinen österreichischen Kontrahenten Smistik die Seitenwahl. Deutschland hatte Anstoß, und bereits nach 25 Sekunden erzielte Ernst Lehner die Führung. Bei einem Gegentreffer von Horvath sorgten die deutschen Spitzen Conen und Lehner für eine 3:1-Pausenführung. Sestas Anschlusstreffer in der 55. Minute machte die Partie noch einmal spannend, da die Österreicher mit Macht auf den Ausgleich drängten. Doch mit viel Glück und Geschick konnte die deutsche Elf ein weiteres Gegentor vermeiden und verließ als WM-Dritter den Platz. Paul Janes’ Leistung als Verteidiger fand überall Anerkennung. Sein Mitspieler Conen schrieb dazu: „Paul Janes hatte als rechter Back mit so viel Umsicht und Sicherheit gespielt, als ob er seit Jahren nie eine andere Position innegehabt hätte“.106

      ALS NS-BOTSCHAFTER IN EUROPA UNTERWEGS

      Während die Österreicher in ihrer Heimat anschließend als „Plunderelf“ verspottet wurden, lag beinahe ganz Deutschland seinen Kickern zu Füßen.107 Noch am selben Abend traf der Dank des Reichssportführers Hans von Tschammer und Osten, der nach eigener Aussage am Radio das Spiel verfolgt hatte, in Italien ein. Er fand lobende Worte für den „heroischen Kampf“ und stellte fest: „Ich habe mich in Euch nicht getäuscht! Deutschland ist stolz auf Euch!“108 Beispielhaft für die damalige Stimmung soll hier der Text von Lutz Koch, dem späteren DFB-Pressewart, zitiert werden: „Der Sieg wurde bei einer herrlichen Leistung der ganzen Elf zu einem unbeschreiblichen Triumph der Deutschen. Karabinieri mussten den Omnibus, der unsere Spieler nach dem Hotel brachte, aus der wogenden Menge, die immer wieder die Deutschen sehen wollten, heraushauen. Ganz Neapel stand kopf. Ein stolzer Tag der deutschen Länderspiel-Geschichte ging zu Ende.“ Der dritte Platz hinter den Profiteams aus Italien und der Tschechoslowakei war für Koch gleichbedeutend mit dem Gewinn des Titels eines Amateurweltmeisters und dem Aufstieg zur Fußballgroßmacht. Außerdem fand er höchstes Lob für die Nationalspieler, die „sich stets als anständige Kämpfer gezeigt, die sich ihrer Aufgabe, Vertreter des nationalsozialistischen Deutschlands unter den Augen der Weltöffentlichkeit zu sein, würdig erwiesen.“109

      Das Parteiorgan der NSDAP, der „Völkische Beobachter“, ging in der Beurteilung des Sieges noch weiter: „Ein Erfolg, der in erster Linie dem durch den Nationalsozialismus geschaffenen neuen deutschen Lebensgefühl der Bereitschaft und des Kampfes zuzuschreiben ist. (…) Jeder deutsche Sportler, der jetzt gegen einen Ausländer startet, weiß zweierlei: Wenn du kämpfst, kämpfst du für dein Land, für sein Ansehen und seine Ehre. Und während du kämpfst, warten 60 Millionen Deutsche in starkem Vertrauen zu dir auf deinen Sieg.“110 Damit wurde die deutsche Nationalelf zum „omnipräsenten Botschafter des Nazi-Staates“ hochstilisiert.111

      Sportlich konnte man sich Janes als Botschafter Deutschlands durchaus vorstellen. Zwar waren seine Leistungen noch nicht so stabil und sein Schuss noch nicht so präzise wie einige Jahre später, doch insgesamt gab er auf dem Platz eine gute Figur ab: ungefähr 1,75 Meter groß, knapp 80 Kilogramm schwer, durchtrainiert, dunkle, beinahe schwarze, leicht gewellte Haare und blaue Augen. Keine weiteren besonderen Kennzeichen. Aber es ist schwierig, ja eigentlich unmöglich, sich Paul Janes außerhalb des Spielfeldes als Nazi-Botschafter vorzustellen. Ganz abgesehen davon, dass ihm jegliches politisches Interesse fehlte und er mehr als einsilbig war – es fehlte ihm die Ausstrahlung, Menschen mitzureißen. Dies sollte sich auch in seiner späteren Karriere als Trainer negativ bemerkbar machen.

      Diese Einsilbigkeit und Unfähigkeit, sich anderen mitzuteilen, offenbarte sich in einem legendär zu nennenden Interview, das er unmittelbar nach der WM führte: „‚Herr Janes, Sie waren mit der Nationalelf in Italien?‘ Antwort: ‚Ja!‘ – ‚Sind Sie mit dem Abschneiden zufrieden?‘ – ‚Ja!‘ – ‚Hätten Sie Weltmeister werden können?‘ – ‚Nein!‘ – ‚Der dritte Platz tut es auch?‘ – ‚Ja!‘ ‚Wie war es in Italien?‘ – ‚Warm!‘“112

      Bei der Rückkehr in ihre Heimatstädte erlebten die erfolgreichen Nationalspieler einen begeisternden Empfang. So standen beispielsweise bei Ernst Lehners Ankunft am Augsburger Bahnhof „Hunderte und Tausende, dichtgedrängt, die (…), als ich schließlich erschien, mehr oder weniger vernehmlich ein schüchternes, aber ehrlich gemeintes ‚Bravo Lehner!‘ herausbrachten“.113 Die Erfahrungen, die der 22-jährige Janes im Sommer 1934 machen durfte, müssen beeindruckend gewesen sein. Auf DFB- und damit letztendlich auf Staatskosten durfte er einen mehrwöchigen Urlaub in Italien verbringen, der durch einige Trainingseinheiten und Länderspiele unterbrochen wurde. Für seine Eltern dürfte ein mehrwöchiger Urlaub zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens drin gewesen sein. Es ist kein Wunder, wenn Paul Janes alles daran setzte, diesen Luxus zu behalten und ihn nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

      Es ist sogar davon auszugehen, dass Janes’ WM-Teilnahme zu einem neuen Arbeitsverhältnis führte. Denn unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Italien meldete er sich in Düsseldorf polizeilich ab, kehrte zurück nach Leverkusen-Küppersteg und konnte dort wahrscheinlich schon ab Juli 1934 eine Arbeitsstelle bei der I.G. Farben als Expedient antreten. Die exakten Daten zum Beschäftigungszeitraum und zum Anlass der Stellenvergabe liegen leider nicht mehr vor, doch es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine Art Belohnung für den gebürtigen Küppersteger handelte. Nach Auskunft des Bayer-Archivs arbeitete Janes als Expedient vermutlich in der Abteilung „Schwerer Lastentransport innerhalb des Werkes Leverkusen“.114 Er erhielt für seine Tätigkeit einen Lohn in Höhe von 150 RM monatlich und blieb bis zum Februar 1937 in Leverkusen