Schöner Tod. Astrid Keim

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Название Schöner Tod
Автор произведения Astrid Keim
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783946734994



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Auffälliges, nicht den geringsten Hinweis, der weiterhelfen könnte. Doch, drängt es sich ihr plötzlich auf, da gab es etwas: die Rose im Haar. Eine leuchtend rote Rose, voll erblüht, ohne das geringste Anzeichen des Verwelkens. Das korrespondiert mit dem Zustand der Toten. Auch hier keine Spuren von Verwesung, soweit sie es feststellen konnte. Ist das ein Hinweis darauf, dass der Körper erst kürzlich abgelegt wurde, oder hat der strenge Frost beides konserviert? Unwahrscheinlich, zumindest was die Rose betrifft, die wäre nach kurzer Zeit erfroren und braun geworden. Also wird der Körper noch nicht lange dort gelegen haben. Oder sollte es sich um eine künstliche Blume handeln? Sie konzentriert sich auf das Aussehen. Nein, ausgeschlossen, das wäre ihr aufgefallen. Die Rose ist echt. Aber irgendetwas stimmt da nicht. Sie hat das sichere Gefühl, etwas bemerkt zu haben, ohne es in Worte fassen zu können. Aus Erfahrung weiß sie, dass es keinen Sinn macht, darüber nachzugrübeln, es wird ihr wieder einfallen, wenn die Zeit dafür reif ist. Als Gedächtnisstütze schreibt sie in Blockbuchstaben »ROSE« auf den Zettel, macht ein Ausrufezeichen dahinter und unterstreicht das Wort zweimal mit energischen Strichen. Sorgfältig faltet sie das Papier zusammen und verstaut es im Portemonnaie, um sich dem Kuchen zu widmen, der gerade gebracht wird.

      Sie ist noch nicht ganz fertig, als Renate eintrifft und sich ohne Umstände am Tisch niederlässt. Renate ist ihre beste Freundin. Sie kennen sich noch aus Studenten­zeiten. Auch sie ist eine Liebhaberin der angenehmen Dinge des Lebens, die sich mit zunehmendem Alter zunehmend in Caféhäusern abspielen. Ohne sich verabreden zu müssen, treffen sich die beiden häufig am Nachmittag im Wacker, um ihrer Vorliebe zu frönen und ein Schwätzchen zu halten.

      Renate kann sich ihre Zeit frei einteilen. Zwar absolvierte sie ihr Soziologiestudium mit Bravour und setzte noch eine Promotion mit summa cum laude darauf, hat aber nie in diesem Beruf gearbeitet. Ihr Interesse galt zunehmend den Wirtschaftswissenschaften, und auf diesem Gebiet finden ihre kritischen Analysen und Artikel in Fachzeitschriften seit Jahren öffentliche Anerkennung.

      Aus einem sehr vermögenden Elternhaus stammend, wurde sie als spät geborenes, sehnlichst erwartetes einziges Kind klaglos und großzügig alimentiert. Außerdem verfügte sie seit dem 21. Lebensjahr durch ein Vermächtnis der Großeltern über eigenes Geld. Unabhängig von pekuniären Zwängen, konnte sie ihr Leben selbst gestalten. Nach dem Tod der Erzeuger bestand die einzige Veränderung darin, sich nun selbst um die Verwaltung des Vermögens kümmern zu müssen, was ihr mit beachtlichem Erfolg gelang. Und es gelang ihr, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben und sich dem Einfluss der Mutter entziehen, die als Charity Lady im Rampenlicht ihre wohltätigen Auftritte ­gefeiert hatte. Renates Charity-Aktionen bestehen seit Jahren darin, mittellosen Freunden über die Runden zu helfen und sich ehrenamtlich in einer Menge wohl­tätiger Organisationen zu engagieren. Alf, Künstler und Privatphilosoph, den sie von ihrer Mutter erbte, wird von ihr genauso gesponsert wie eine alte Freundin der Familie, der sie den Verbleib in der vertrauten großen Altbauwohnung ermöglicht, nachdem Anlageberater am Neuen Markt ihr Vermögen verspielten.

      Laura war nicht die Einzige, die Renate darum beneidete, dass ihr der harte Konkurrenzkampf um einen Job erspart blieb. Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger war Soziologie das Lieblingsfach der intellektuellen Avantgarde und der Andrang auf die wenigen Stellen entsprechend groß. Die Professoren Adorno, Marcuse und Horkheimer, leitendes Dreigestirn der Fakultät und Begründer der Kritischen Theorie, genossen hohe Achtung und Verehrung in der progressiven Studentenschaft. Viele wollten in ihre Fußstapfen treten, ohne die beruflichen Aussichten ins Kalkül zu ziehen. So kam es, dass nicht wenige nach dem Examen Taxi fuhren. Was als Übergang gedacht war, wurde manchmal aus Mangel an Alternativen zum festen Job, und so saßen damals einige hoch qualifizierte Akademiker hinter dem Steuer.

      Auch Laura liebäugelte zunächst mit dieser Fachrichtung, aber in realistischer Abschätzung der Perspektiven entschied sie sich für die ­Rechtswissenschaften, sehr zur Befriedigung ihrer Eltern, die meinten, eine Juristin in der Familie könne nicht schaden. Es dauerte eine Weile, bis die Familie begriff, dass auch für sie ein Prozess mit Kosten verbunden sein würde.

      Renate heiratete mit 26 ihre Teenagerliebe. Stefan war erst kurz zuvor durch einen Zufall wieder in ihr Leben getreten, und die Hochzeit fand nur zwei Monate danach statt. Laura hatte nie verstanden, was ihr an diesem Mann so gefiel, denn außer gutem Aussehen konnte sie nichts Bemerkenswertes an ihm finden. Ein knappes Jahr später war Renate Witwe. Bei einer gemeinsamen Wanderung mit Freunden durch den herbstlichen Wald glitt ihr Mann auf nassen Blättern aus, rutschte einen Abhang hinunter, fiel auf eine kleine, selten befahrene Straße und wurde von einem Auto überrollt. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus, und seine Eltern gaben ihr die Schuld an dem Unfall. Wegen der Lebensversicherung, die sie ausgezahlt bekam. »Heimtückischer Mord aus Geldgier«, so lautete die Anschuldigung, ein Verfahren jedoch wurde gar nicht erst eröffnet, da mehrere Zeugen das Geschehen beobachtet hatten. Ausgerechnet Geldgier als Mordmotiv, das machte Renate nun wirklich fassungslos. Die Lebensversicherung war bereits lange vor der Heirat abgeschlossen worden und hatte der Altersversorgung dienen sollen. Wie sie Laura einmal anvertraute, wollte sie eigentlich das Geld der Familie überlassen, überlegte es sich aber anders, als sich das Blatt so wendete. Seit damals hat Renate keinen ernsthaften Versuch mehr unternommen, eine neue Partnerschaft einzugehen, obwohl es an Verkupplungsversuchen des Freundeskreises nicht mangelte. Soweit es Laura einschätzen kann, ist Renate mit ihrem Los durchaus zufrieden und empfindet keine Defizite.

      »Ich muss dir was erzählen«, fangen beide gleichzeitig an.

      »Du zuerst!« Großzügig überlässt Laura ihrer Freundin den Vortritt, die darauf zu brennen scheint, ihre Geschichte loszuwerden. Und tatsächlich handelt es sich um Brennendes, nämlich um einen Klecks Löwensenf. In diesen ist ihr gieriger und nicht ohne Grund ziemlich dicker roter Kater Adorno getreten, als er auf den Tisch sprang und mit einer Pfote im Teller landete. Der Duft des übrig gebliebenen Wurstzipfels verlockte ihn wohl zu diesem Fehltritt, der sich bitter rächte beim Versuch, die Pfote sauber zu lecken. Der scharfe Senf stieg ihm in Nase und Augen, sodass er wie ein geölter Blitz durch die Wohnung raste, heftig niesend, mit tränenden Augen, bis es seiner Herrin gelang, ihn einzufangen und in der Badewanne zu reinigen.

      Laura kann sich das genau vorstellen, und beide schütten sich aus vor Lachen.

      »Jetzt du«, auffordernd nickt Renate ihr zu, aber Laura schaut auf die Uhr und schüttelt den Kopf.

      »Nächstes Mal. Ich bekomme noch Besuch, weiß aber nicht genau, wann. Es ist besser, wenn ich mich aufmache. Wahrscheinlich kann ich dir später auch mehr erzählen.«

      Sie hat es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen. Ein Gedanke ist wie aus dem Nichts aufgetaucht, und der hat mit der Rose zu tun. Auf dem Fahrrad sind es nur zwei Minuten bis zu ihrer Wohnung in einem ruhig gelegenen Altbau, die sie mit Christoph vor 15 Jahren gekauft hat. Zum Glück, wie ihr immer wieder bewusst wird, wenn sie hört, welche horrenden Mieten mittlerweile in der Frankfurter Innenstadt verlangt werden. So etwas wäre heute für einen Normalverdiener nicht mehr finanzierbar. Hastig schließt sie auf und deaktiviert die Alarmanlage, die rot blinkend durch das milchige Sicherheitsglas mögliche ­Einbrecher warnt. Als die Wohnung vor zwei Jahren renoviert wurde, entschlossen sie sich zu dieser Lösung, um das Fenster der alten Tür nicht weiterhin mit Gittern zu verschandeln.

      Sie wirft den Mantel über einen Stuhl, streift ungeduldig die Schuhe von den Füßen, um in die bereitstehenden Pantoffeln zu schlüpfen, und geht zu dem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa. Eine Lampe steht dort und außerdem ein kleiner Silberkelch mit weißer Kamelie, umgeben von einem Arrangement aus immergrünen Blättern. Sie hat es von Maren bekommen als Mitbringsel, bald nach Christophs Tod. »Das ist unsterblich und trotzdem echt«, sagte Maren, »ich habe es in München gesehen und dachte, es würde dir gefallen. Die Blumen und das Grün werden gefriergetrocknet und halten dann ewig. Fühl mal, es gibt keinen Unterschied zu lebenden Pflanzen!« Vorsichtig betastete Laura die zarten Blütenblätter und musste ihr recht geben.

      Aufmerksam betrachtet Laura nun das Gesteck. Es ist tatsächlich so. Nicht die geringste Spur des ­Verwelkens nach elf Monaten. Sollte es sich bei der Rose im Haar des Mädchens vielleicht um ein solches Artefakt handeln? Das wäre eine Erklärung für den Erhaltungs­zustand. Wenn man solche Blumen in München kaufen kann, gibt es sie auch in Frankfurt. Bestimmt aber nicht in vielen