Schöner Tod. Astrid Keim

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Название Schöner Tod
Автор произведения Astrid Keim
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783946734994



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Ärztin sprach. Der Name passt, denn das schmale Gesicht ist von einer Fülle dunkler Locken umrahmt.

      Elli öffnet die Augen und winkt Laura mit einer schwachen Handbewegung zu sich. »Es ist etwas Furchtbares passiert«, sagt sie mit brüchiger Stimme, »Marie ist ermordet worden, meine Enkelin.« Laura hält in der Bewegung inne, wie vom Donner gerührt. Das darf doch nicht wahr sein. Ihr Blick wird von einem Foto auf der Kommode angezogen. Jetzt weiß sie, woher der flüchtige Eindruck kam, das Mädchen zu kennen. Das Foto zeigt Marie an eine Säule gelehnt. Die Aufnahme muss älter sein, denn die Haare sind nur halblang. Das Gesicht liegt im Halbschatten, die Züge etwas unscharf. Jetzt, wo die Verbindung her­gestellt ist, liegt die Ähnlichkeit auf der Hand, Laura ist jedoch sicher, dass sie nicht von alleine darauf gekommen wäre.

      Sie folgt dem spontanen Impuls, Elli in den Arm zu nehmen, setzt sich dann auf die Bettkante und nimmt ihre Hand. Die Ärztin steht auf. »Es ist gut, dass Sie da sind, denn eine andere Patientin wartet noch auf mich. Ich hätte sonst jemand aus der Pflege gebeten, aber so ist es besser.« Sie weist auf ein Röhrchen mit Tabletten: »Das ist Tavor, ein sehr wirksames Beruhigungsmittel. Eine weitere Tablette gegen Abend schadet mit Sicherheit nicht, vielleicht schaue ich nachher noch einmal vorbei, spätestens aber morgen früh.« Wieder ein fester Händedruck, verbunden mit einem kleinen Lächeln. Eine schöne Frau, denkt Laura, auch wenn das beginnende Alter anfängt, ihren Gesichtszügen die Weichheit zu nehmen.

      Solange es notwendig war, hat Angela Mohrhaupt den Anschein von Gelassenheit aufrechterhalten können. Jetzt, im Gang, lehnt sie sich erschöpft gegen die Wand. Sie fühlt sich ausgelaugt und leer. Viel ­länger hätte sie es im Zimmer nicht ausgehalten. Gott sei Dank ist die Besucherin gekommen, Laura Mahler, wenn sie den Namen richtig verstanden hat. Gott sei Dank konnte sie noch die Fassung bewahren. Das hier ist eine ganz andere Sache als die fast schon Routine gewordene Konfrontation mit dem Ende des Lebens. Sie fürchtet, dass die Nachricht den Lebenswillen der alten Dame brechen wird, und weiß, dass sie die Verantwortung trägt, bestmögliche Unterstützung zu leisten. Sie weiß allerdings nicht, wie sie das schaffen soll. Es gelingt ihr nur mit Mühe, die Patienten zu versorgen. Schon das morgendliche Aufstehen kostet Überwindung. Sie muss sich zusammenreißen, sie kann nicht hier stehen bleiben, was sollen die anderen denken, wenn sie jemand sieht?!

      Es sind nur ein paar Schritte bis zur Toilette. Mit beiden Händen stützt sie sich aufs Waschbecken und schaut in den Spiegel. Die Augen sind umschattet, ihr Blau steht in scharfem Kontrast zu den dunklen ­Ringen. Keine Ringe. Tränensäcke, verbessert sie sich erbarmungslos. Sie studiert die Striche, die sich von der Nase zum Mund ziehen, die Fältchen um die Augen, die Linien um den Hals. Das ist eine Fremde im Spiegel, eine müde, verblühende Frau mit blassem ­Gesicht und leerem Blick. Kein Wunder, dass sie Alex verlassen hat, irgendwann musste das kommen. Das hat sie schon gewusst, als es begann. 17 Jahre Altersunterschied lassen sich nicht einfach ignorieren, auch wenn es anfangs so aussah. Die gemeinsame Basis fehlte.

      Er, nach dem Germanistikstudium und dem Volontariat bei einer großen Tageszeitung als Journalist übernommen, ist dort heute stellvertretender Chefredakteur mit ausreichendem Salär. Er konnte reisen, das Leben genießen, sie musste ihren Pflichten nachkommen. Der Freundeskreis war nicht kompatibel. Zwei oder drei Versuche machten das klar, sodass sie keine weiteren unternahmen. Trotzdem lebten sie zusammen, besser gesagt, er nahm das Angebot an und zog bei ihr ein, als seine Wohnung wegen Eigen­bedarfs gekündigt wurde. Im Nachhinein gesehen wohl aus Bequemlichkeit, denn nie machte er den Versuch, nach seinem eigenen Geschmack etwas mitzu­gestalten, brachte nur ganz wenige Möbel mit. Anfangs war sie darüber verwundert, aber er beteuerte, dass er sich wohlfühle und nichts vermisse. Jetzt ist sie überzeugt, dass alles für ihn nur ein Provisorium war, bis sich etwas Besseres böte.

      Vor drei Wochen ließ er sie wissen, dass er sich neu verliebt habe. Leider. Er bedauere das sehr, und sie dürfe nicht glauben, dass das leicht für ihn sei. Aber so sei es nun einmal und die Trennung für alle das Beste. Ein klarer Schnitt. Mit dem Altersunterschied habe das überhaupt nichts zu tun, auch wenn Bettina erst 22 sei, eine Studentin, die ihr Praktikum in der Redaktion mache. Gestern hat er letzte Sachen aus ihrer Wohnung geholt und sich mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange verabschiedet. Tschüss, das war’s.

      Bis vor drei Wochen wurde ihr Leben von strenger Disziplin bestimmt, die nun ins Wanken geraten ist. Der Tag hat sich nicht geändert, wohl aber der Abend. Sie hatten miteinander gegessen, zu Hause oder auswärts, waren ins Kino gegangen oder in das kleine Weinlokal nicht weit entfernt von ihrer Wohnung.

      Sie ringt darum, das innere Gleichgewicht wieder zu erlangen. Es dauert nur wenige Minuten, dann wendet sie sich entschlossen ab. Die Routine der beruflichen Anforderungen ist eine Stütze. Sie schiebt die dunklen Locken zurück, wischt mit einem Papiertuch über die schweißnasse Stirn und schüttelt die Haare wieder zurecht. Wenigstens die machen keine Probleme, konstatiert sie und spürt, wie ihr Puls wieder ruhiger wird. Sie zieht den Lippenstift aus einem Seitenfach der Handtasche, malt den Mund mit aller Sorgfalt nach und vergewissert sich, dass die unnatürliche Blässe verschwunden ist. Die Schwäche ist vorbei, sie fühlt sich gerüstet, ihrer Arbeit wieder nachzugehen.

      Laura setzt sich auf den freigewordenen Stuhl und nimmt erneut Ellis Hand. Noch sind deren Augen vom Weinen gerötet, aber die Tablette tut ihre Wirkung. Laura überlegt kurz, von ihrem Part bei dem Todesfall zu berichten, entscheidet sich aber dagegen. Er tut nichts zur Sache, ändert nichts an den ­Gegebenheiten, würde höchstens weitere Aufregung hervorrufen. »Wann hat man es dir gesagt?«, fragt sie stattdessen.

      »Heute, nach dem Mittagessen. Man wollte mir wohl nicht den Appetit verderben. Frau Dr. Mohrhaupt war dabei. Sie wusste es bereits.«

      Laura nickt. »Das war bestimmt richtig so, meinst du nicht?«

      Elli zögert einen Moment. »Zuerst habe ich es als ungeheuerlich empfunden, aber im Nachhinein bin ich dankbar dafür, dass ich nicht alleingelassen wurde. Nein, alleingelassen worden, das wäre ich ohnehin nicht«, korrigiert sie sich, »das Pflegepersonal kümmert sich wirklich sehr gut um uns, aber zur Frau Doktor habe ich doch ein intensiveres Verhältnis. Sie kennt mich besser als die anderen. Sie weiß, dass es das Ende meiner Familie ist.«

      Und Lauras Frage vorwegnehmend: »Wir hatten nur ein einziges Kind, unsere Tochter Ina. Sie studierte Kunstgeschichte und reiste mit einer Exkursion nach Südfrankreich, um romanische Kirchen zu besuchen. Im Kloster St. Trophîme in Arles lernte sie einen jungen Mann kennen, der sich dort sein Studium als Fremdenführer verdiente. Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Wieder zuhause, sprach sie von nichts anderem als von Jérôme und der Schönheit seiner Heimat­stadt, von der südlichen Sonne und den Lavendel­feldern. Das Lebensgefühl dort sei ein ganz anderes. Frankfurt, wo sie ihre Jugend verbracht hatte, erschien ihr plötzlich eng und kalt und ohne Perspektive. Sie blieb noch ein Jahr, machte ihr Diplom und zog dann zu Jérôme nach Arles. Kurz darauf heirateten sie.«

      »Das dürfte nicht so ganz einfach für euch gewesen sein. Das einzige Kind hätte man doch wohl gerne in der Nähe?«

      »Natürlich, aber andererseits konnten wir ihre Wahl verstehen, der junge Mann war höflich, respektvoll, aufmerksam und stammte aus einer alteingesessenen Familie. Vor allem aber liebte er Ina offenbar ­aufrichtig. Zur Hochzeit drei Monate später reisten wir nach Arles und konnten uns von ihrem Glück überzeugen. Und 14 Monate später war Ina tot, gestorben bei der Geburt von Marie …«

      Elli schließt die Augen, als wolle sie die Erinnerung ausblenden. Schließlich fährt sie fort: »Wir hätten das Kind gerne zu uns geholt, wussten aber, dass das nicht möglich sein würde. Jérôme hätte seine Tochter nie weggegeben, außerdem kümmerte sich die ganze Familie rührend um die Kleine. So blieb es also bei gegenseitigen Besuchen, leider meist nur einmal im Jahr. Ich habe mich so gefreut, als sie sich nach dem Tod ihres Vaters entschloss, hierher zu kommen.«

      Laura sieht, wie die Augen wieder feucht werden, und streichelt ihre Hand. Sie hat Elli kaum unterbrochen. Offenbar war es ihr wichtig, die ganze Geschichte zu erzählen. Ein Vertrauensbeweis, denkt Laura, und ich erwidere ihn nicht. Ich verschweige Dinge, die sie vielleicht wissen sollte. Wieder kämpft sie mit sich, ihr die Wahrheit zu sagen,