Название | Stillerthal |
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Автор произведения | Martina Simonis |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783724522935 |
Als sie im Dorf angekommen waren, stoppte Matthis den Ochsenkarren vor der Schmiede. Es war ein großes, aus runden Flusskieseln gebautes Gebäude, das zur Dorfstraße hin offen war. Neben der im Hauptgebäude untergebrachten Werkstatt schloss sich ein kleiner, einfacher Nebenbau an, in dem der Schmied Vingas und seine Frau Marilin den Dorfkrug, die einzige Gaststätte im Dorf, betrieben.
«Warte einen Moment, ich will Lundis Bescheid geben, dass er den Karren erst morgen früh bekommt.»
Kurz nachdem er den Dorfkrug betreten hatte, kam Matthis in Begleitung von vier schlicht gekleideten Männern heraus. Sie waren dunkelhäutig wie Matthis und starrten Lele unverhohlen an. Lele überwand ihre Scheu, nickte ihnen freundlich zu und sagte laut «Guten Tag». Zu ihrem Erstaunen erfolgte keine Gegenreaktion. Nicht ein kurzes Nicken mit dem Kopf, nicht ein gemurmelter Gruß.
Matthis verabschiedete sich hastig, dann setzte er sich auf den Karren und trieb den Ochsen an.
«Hab ich etwas falsch gemacht?», fragte Lele, als sie außer Sichtweite waren.
Matthis starrte geradeaus auf den Weg. Er nagte an seiner Lippe, dann nickte er zögernd.
«Die Frauen blicken hier den Männern nicht direkt ins Gesicht. Und sie sprechen fremde Männer nicht an. Es ziemt sich nicht. Aber ich habe erklärt, dass du aus der Stadt bist. Den Städtern werden lockere Sitten nachgesagt, sie werden es also verstehen, wenn du dich … anders verhältst.»
Lele nickte. Andere Länder, andere Sitten. Sie war töricht gewesen. Aber das Unwohlsein blieb. Es wich erst, als sie in der Vertrautheit des Matthishofes ankamen.
Müde von der frühmorgendlichen Arbeit im Stall und der Käserei ließ sich Matthis auf einen Stuhl fallen und zog sich den Teller Morgensuppe her, den Lele ihm gerichtet hatte. Nachdenklich betrachtete er sie. Sie hatte sich mit einer Flickarbeit vors Fenster gesetzt, um das hereinfallende Tageslicht auszunutzen. Konzentriert führte sie die Nadel durch eines der vielen Löcher seines Ersatzhemdes und verwob den Faden so gekonnt mit dem übrigen Stoff, dass man die Flickstelle kaum mehr als solche erkennen konnte.
Lele gab sich Mühe. Übernahm Arbeiten, die sie trotz ihrer Behinderung erledigen konnte, machte sich nützlich, wo immer es ging. Und dennoch war sie die Fremde, ihr Einzug in Stillerthal hatte es ihm nur allzu deutlich vor Augen geführt. Er kannte seine Landsleute und konnte sich gut vorstellen, worüber im Dorf gerade getratscht wurde. Wie hatte es diese unmanierliche Fremde geschafft, sich den Junggesellen Matthis zu angeln? Was fand Matthis an dieser vorlauten weißhäutigen Städterin, wo es im Tal so viele hübsche braune und gefügige Mädchen gab? Da war der Weg zu geflüsterten Mutmaßungen über Liebestrank und Hexenwerk nicht weit, und gerade das machte ihm Sorgen. Obwohl seine Mutter aus dem Tal stammte, war sie immer anders gewesen. Sie hatte das Tal verlassen, um in den Tieflanden die Heilkunst zu erlernen. War mit einem Kind, aber ohne Mann zurückgekehrt. Das Attribut Hexe war ihr ein Leben lang angehangen, selbst ihr plötzlicher Unfalltod war geheimnisumwoben und suspekt. Es hatte Matthis viele Jahre zäher Arbeit gekostet, ihren Schatten zu überwinden. Nun hatte dieser plötzlich neue Nahrung bekommen. Matthis hoffte darauf, dass die Gerüchte abebben würden, sobald Leles Schwangerschaft sichtbar würde. Die Stillerthaler waren abergläubisch, aber sie konnten rechnen. Vielleicht würden sie lachen und denken, dass Matthis auch nur ein Mann war und ihn das gleiche Schicksal ereilt hatte, das schon unzählige Geschlechtsgenossen vor ihm in den Ehestand gezwungen hatte. Aber noch war es nicht soweit, noch war die kleine Rundung von Leles Bauch zu unauffällig, um im Dorf bemerkt zu werden.
Gedankenverloren löffelte Matthis den Teller leer. Dann stand er auf, trug den Teller zum Spülstein, wusch sich die Hände und ging zur Tür, wo seine Ausgehjacke und die Lauschankutte hingen.
«Ich gehe zum Lauschan!», sagte er. «Bis später.»
Lele legte ihre Näharbeit beiseite und stand auf.
«Ich komme heute mit.»
Matthis erstarrte und sah sie verstört an.
«Frauen gehen nicht zum Lauschan.»
Nun war es Lele, die ihn entgeistert anschaute.
«Warum das?»
«Frauen gehen nie zum Lauschan. Sie können das nicht.»
«Was können sie nicht?»
«In der Stille des Lauschan sein.»
Lele runzelte ärgerlich die Stirn.
«Natürlich können Frauen in der Stille des Lauschan sein. Es gibt Gegenden, in denen es eine Selbstverständlichkeit ist, dass Männer wie Frauen zum Lauschan gehen.»
Matthis fühlte sich unwohl. Er war nie weiter als bis Wilderbrugg gekommen, wo er hin und wieder auf dem Markt seinen Käse verkaufte. Nun rang er um eine Erklärung.
«Aber Frauen sind … anders.»
«Sind wir das? Die Gesellschaft, in der wir leben, weist uns je nach Geschlecht Rollen zu, ja, aber sind wir deswegen anders? Fühlen wir nicht Schmerz, wenn wir uns schneiden, sind wir nicht froh, wenn uns eine Arbeit gelingt, oder ärgern uns, wenn uns etwas zerbricht? Wieso sollten wir anders sein?»
Matthis schwieg und sah stur an ihr vorbei.
«Du magst recht haben. Aber hier in Stillerthal gehen die Frauen nicht zum Lauschan. Es ist … undenkbar!»
Dann drehte er sich um und eilte aus dem Haus.
Doch das Gespräch verfolgte ihn. Wie ein schmerzender Zahn bohrte es sich immer wieder aus der Tiefe, wohin er es verdrängt hatte, zur Oberfläche hindurch und störte seine Gedanken. Die Ruhe, die er sonst beim Lauschan fand, blieb ihm dieses Mal versagt. Daher war er froh, als der alte Bovis das Ende des Lauschan einläutete, und noch erleichterter war er, als er feststellte, dass heute keiner der Jungbauern seinen Rat als Lauschan-Mahadan zu suchen schien. Matthis zog die Kutte, die ihn als Lauschan-Mahadan auszeichnete, aus, rollte sie zusammen und band sie sich um die Taille. Dann winkte er den anderen Mahadani einen kurzen Gruß zu und machte sich auf den Heimweg.
Es dauerte nicht lange, bis er Lele entdeckte. Sie hatte sich auf dem großen Findling am Rande der Dorfwiesen niedergelassen, ihr weißes Kleid und das gelbe Kopftuch leuchteten hell vor dem Graubraun des Vorfrühlingswaldes. Aufrecht saß sie da, ein Mahnmal für ihn und für alle, die es sehen konnten.
Mit mulmigem Gefühl schritt er ihr entgegen. Als er den Fels fast erreicht hatte, deutete er ein Nicken des Kopfes an.
«Hayda Lele», grüßte er.
«Hayda Matthis», lächelte sie und zeigte auf die freie Stelle neben ihr. «Komm, setze dich zu mir, der Stein ist warm und trocken.»
Matthis erklomm den Fels und ließ sich neben ihr nieder. Er scheute sich, sie anzusehen. Stattdessen wandte er den Kopf und ließ den Blick über das Tal schweifen. Sie hatte den Ort gut gewählt, die Aussicht war beeindruckend. Vor ihm breitete sich der von Wiesen und Feldern umsäumte Talgrund mit Teich und Dorf aus, etwas abseits sah man das baumumgrenzte Rund des Lauschan-pans. Wie ein lebender Baldachin wölbten sich die Äste über dem Platz und malten ihre Muster aus Licht und Schatten. Die Stille, die von dem Ort ausging, war bis hier oben zu spüren.
«Du hast uns zugesehen», begann er vorsichtig.
«Ist das auch verboten?»
Matthis schüttelte den Kopf. Er warf ihr einen kurzen Blick von der Seite zu. Die Person, die da neben ihm in der Sonne saß, aufrecht und gefasst, hatte nichts mehr gemein mit dem Bündel Mensch, das er oben bei den Wächterbäumen gefunden hatte. Stattdessen war ihm, als säße Sol selbst an seiner Seite, die vom Himmel herabgestiegen war, um über die Menschen zu richten.
«Ich weiß, dass es dich schmerzt», sagte er. «Aber ich kann die Traditionen nicht ändern.»
Lele wiegte nur den Kopf. Nachdenklich blickte sie ins Tal hinab, dorthin wo sich der nun verlassene Lauschan-pan befand.
«Was