Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz

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Название Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band)
Автор произведения Joachim Ringelnatz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027203697



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So trieben sie noch lange ihren Spaß mit mir und wiederholten mir alle das, was man mir bei Krahl gesagt hatte. Einer von ihnen, den die anderen Hermann nannten, ein kleiner schmächtiger Mensch, schien der Gebildetste zu sein und nahm sich auch meiner besonders freundlich an. Er war als Leichtmatrose für die »Elli« angeworben, hatte seine Eltern in Hamburg und unterhielt sich hochdeutsch mit mir. Die übrigen waren Matrosen bis auf einen, der den Rang eines Bootsmannes einnahm.

      Auch Hermann riet mir, wieder nach Hause zu fahren. Das Wasser habe keine Balken. Ich wies seinen Rat zwar mit Entschiedenheit zurück, aber er hatte doch genügt, meine Stimmung bis unter Null zu bringen, und ach, es sollte noch schlechter kommen.

      Wir gingen in See. Nachts lagen wir nebeneinander in wollene Decken eingehüllt im Zwischendeck, wohin man nur mittels einer Leiter gelangte. Da ich keinen Schlaf finden konnte, stand ich wieder auf und ging unruhig im ganzen Schiff umher, verwundert anstaunend und verwundert angestaunt. Schmutzig, schmierig, ölig war alles, was ich anfaßte oder sah. Auch für die französische Besatzung galt das. Das Klosett läßt sich überhaupt nicht beschreiben.

      Am nächsten Mittag wurde uns eine Blechschüssel mit einer fetten, unappetitlichen Masse vorgesetzt. Ragout betitelt; aber keiner von uns konnte sie genießen, trotzdem wir alle furchtbar hungrig waren. Sonst erhielten wir während der dreitägigen Fahrt nichts zu essen. Ich war auf ein Paket Leipziger Schokolade angewiesen. Hundertmal lief ich zur Küche und schrie: »Manger! Manger!«, aber der Schiffskoch war weder durch Geld noch durch gute Worte zu erweichen.

      Jahn, einer von unseren Matrosen, suchte auf andere Weise uns etwas zum Beißen zu verschaffen. Es roch im Zwischenraum stark nach Feigen. Jahn machte sich daran, eine der Kisten mit einem Taschenmesser anzubohren, während der Bootsmann an der Leiter »Schmiere« stand.

      Es war anscheinend nicht leicht, mit dem kleinen Instrument durch das dicke Holz zu dringen, denn Jahn brauchte ziemlich lange Zeit dazu. Endlich war er aber doch durch und fing nun furchtbar zu fluchen an, weil er in der Kiste Seife vorfand. Dann enthielten andere Kisten auch Seife. Zu trinken bekamen wir reichlich. Wein in Gießkannen. So viel, daß wir ihn sogar zum Händewaschen benutzten.

      Die erste Nacht auf See hat sich mir fest ins Gedächtnis eingeprägt; denn sie ließ mich gleich das bewegte Meer kennenlernen. Das Schiff rollte gewaltig hin und her, so daß ich mich überall festhalten mußte. Mir war nicht wohl zumut. Der Hunger, die entmutigenden Reden, die ich bisher gehört, der Spott und der rohe Ton meiner zukünftigen Bordgenossen hatten mich in eine elende Stimmung gebracht. Ich irrte ruhelos auf Deck umher, stieg eine eiserne Treppe empor, bog mich über das Geländer der Kommandobrücke und starrte auf die dunklen, brausenden Wogen hinab, die an dem Schiffe weißschäumend vorüberglitten. Vergeblich versuchte ich den Rhythmus festzustellen, der sie immer wieder mit dem gleichen, mächtigen Getöse formte und zerteilte.

      Neben mir stand ein bärtiger Mann im schwarzen Ölmantel und betrachtete mich mit verwunderten, gefühllosen Blicken wie etwas ganz Fremdes, Unerklärliches. Am Steuer – oder Ruder, wie ich es später nennen lernte – stand ein zweiter Franzose. Seine ebenso erstaunten wie ernsten Blicke schienen mich zu fragen, warum ich nicht, wie meine Landsleute, schlafen ginge. Einmal richtete er auch ein paar Worte in seiner Sprache an mich, die ich aber nicht verstand. Dann stieg ich wieder ins Zwischendeck, und da ich noch immer keinen Schlaf finden konnte, begann ich meine Seekiste auszukramen, in der eine heillose Unordnung herrschte. Dabei entdeckte ich einen Brief, den mir mein Vater mit der Weisung gegeben hatte, ihn erst auf See zu öffnen. Er enthielt eine Menge Goldstücke, wie ich sie nie zuvor mein eigen genannt, und einen Brief in schlichten, herzlichen Worten, die mich zu Tränen rührten. Mein prächtiger Papa!

      Endlich brach ein herrlicher Morgen an und brachte mir etwas frohere Stimmung. Die aufgehende Sonne gab der See eine klargrüne Färbung. Am Horizont zeigte sich ein blendend weißer, felsiger Küstenstreifen, der die brennende Sehnsucht in mir weckte, dort landen und umherstreifen zu können. Der freie, weite Himmel über mir trug dazu bei, das Bild freundlicher zu gestalten, und der Wind blies köstlich erfrischend. Jahn war der erste von uns Deutschen, der sich erhob. Er lachte mir zu, wusch sich in einem Eimer und begann dann, an Deck mit gleichmäßigen, schnellen Schritten auf und ab zu marschieren. Ich beobachtete ihn, wie er, trotzdem das Schiff von einer Seite auf die andere schwankte, doch eine schnurgerade Linie abschritt und dabei oft einen ganz unglaublich spitzen Winkel zum Deck bildete. Die französischen Matrosen, in liederlich-bunter, malerischer Tracht, mit wollenen Zipfelmützen, wie sie bei uns kleine Kinder tragen, standen in Gruppen schwatzend und lebhaft gestikulierend umher.

      Mit ihnen befreundete ich mich bis zu einem gewissen Grade sehr schnell. Sie amüsierten sich anscheinend über mein Französisch. Große Schwierigkeiten machte es mir, ihnen den Begriff »Wurst« klarzumachen. Obgleich ich in der Zeichensprache mit dem Finger in der Luft ein höchst getreues Bild einer deutschen Leberwurst entwarf, lasen diese Franzosen doch alles mögliche andere daraus, wie Makkaroni, Gurken oder Aal.

      Am Abend erblickten wir die zwei Leuchttürme von Le Havre auf einer steilen Felswand, deren grelles Weiß sich gegen den tiefblauen Himmel abhob. Es fiel mir auf, daß das bisher grasgrüne Wasser an einzelnen, merkwürdig scharf begrenzten Stellen eine blaue Färbung zeigte. Jahn und Bootsmann, die mich gern etwas aufzogen, meinten, das blaue Wasser rühre vom Atlantischen Meer, das grüne von der Nordsee her. Dann passierten wir in gewissen Abständen eiserne, aus dem Wasser herausragende Kegel. Hermann belehrte mich, daß das sogenannte Bojen seien, die den Schiffen als Wegweiser oder als Warnungszeichen dienten, während mir Jahn mit ernster Miene etwas von versunkenen Kirchtürmen vorredete.

      Als wir die Felswand passierten, zeigte sich plötzlich in einer Bucht die Stadt Le Havre voll und ganz unseren Blicken. Erst jetzt gelang es mir, der ich halb verhungert war, vom Schiffskoch für fünfzig Pfennige eine ganz alte, harte Semmel zu erlangen.

      Dann kam der Moment, wo wir landeten. Wir Deutschen packten unsere Sachen und machten uns auf die Suche nach der »Elli«. Der Bootsmann nahm die führende Stelle ein. Endlich entdeckten wir das eiserne Vollschiff, das wir suchten.

      Es war allerdings kein Vollschiff und war auch nicht aus Eisen, sondern es war eine kleine, hölzerne Bark mit schwarz gestrichenem Rumpf.

      Drei Masten ragten von ihr in die Höhe, die mit Stangen, Tauen und sonstigen schmutzigen, mir ganz fremden Gegenständen wie mit einem Spinnengewebe übersponnen war. Kein Mensch zeigte sich, und das Schiff wie der Kai, an dem es lag, machten einen öden, toten Eindruck. Am Hinterteil des sargähnlichen Baues stand mit goldenen Buchstaben der Name »Elli« und darunter der Heimatshafen des Schiffes »Oldersum«.

      »Ein Ostfriese«, sagte der Bootsmann mit einer gewissen Verachtung, indem er dicht an die Bark herantrat. Dann legte er die Hand an den Mund und rief mit fürchterlicher Stimme: »Elli ahoi!«

      Auf diesen Ruf hin traten zwei Männer aus der Kajüte. Der eine mußte wohl der Kapitän der »Elli« sein, ein kleiner, untersetzter, breitschultriger Mann mit rötlichem Vollbart, gutmütigem, aber festem Blick und schwankendem Gang.

      »Hallo, seid ihr da«, rief er mit freundlicher, heller Stimme und schob eine hölzerne Pfeife aus dem rechten Mundwinkel in den linken. Der lange rothaarige Bootsmann warf seinen Kleidersack von den Schultern, grüßte auf recht einfältige, verlegene Art und sah aus wie ein dummer Junge. Dann stellte er uns vor. Der Begleiter des Kapitäns war der Steuermann, etwas größer als sein Kapitän, auch breitschultrig, und trug eine blaue Jacke mit breitem Kragen, die etwas Uniformmäßiges an sich hatte. Seine Erscheinung machte wie die des Kapitäns einen sehr sympathischen Eindruck auf mich.

      Wir brachten unsere Habseligkeiten im Schiff unter. Hierauf glaubte ich nun zunächst aller meiner Verpflichtungen ledig zu sein und entfernte mich, ohne Erlaubnis einzuholen, mit dem seligen Gedanken, mir jetzt einmal in Ruhe ganz allein Frankreich anzusehen.

      Mein erstes Bestreben war natürlich, meinen dreitägigen Hunger zu befriedigen. Ich sah mich in den Straßen nach etwas Wurst um, fand aber nirgends, was ich suchte. In den Schaufenstern, die ich mit Hast überflog, sah ich wohl bisweilen ganz kleine, verkrüppelte Dinger, die vielleicht ein wenig Anspruch auf den Namen Wurst hatten; aber die weißgrauen meterlangen Leberwürste, die in Deutschland mein Ideal gewesen, zeigten