Название | Gesammelte Werke von Stefan Zweig |
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Автор произведения | Stefan Zweig |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027214389 |
Denn gewiß ist dies Sinn und Sendung des letzten russischen Jahrhunderts gewesen, mit einer heiligen Unruhe und rücksichtslosem Leidensdrang alle moralischen Tiefen aufzuwühlen, alle sozialen Probleme anzugraben und zu entblößen bis an ihre Wurzeln, und unendlich beugt sich unsere Ehrfurcht vor der kollektiven Geistesleistung seiner genialen Künstler. Wenn wir manches tiefer durchfühlen, wenn wir vieles entschlossener erkennen, wenn die Probleme der Zeit und die ewigen des Menschen uns ansehen mit strengerem, tragischerem und unbarmherzigerem Blick als vordem, so danken wir dies Rußland und der russischen Literatur, ihr auch alle die schöpferische Unruhe zum Neuwahren über die alte Wahrheit hinaus. Alles russische Denken ist Gärung des Geistes, dehnende, aufsprengende Macht, aber nicht Klärung des Geistes wie jenes Spinozas, Montaignes und einiger Deutscher; es hilft herrlich mit an der seelischen Ausweitung der Welt, und kein Künstler der Neuzeit hat uns derart die Seele umgepflügt und aufgewühlt wie Tolstoi und Dostojewski. Aber eine Ordnung, eine neue, haben sie beide uns nicht schaffen helfen, und wo sie ihr eigenes Chaos, das seelisch abgründige, als Weltsinn abzureagieren suchen, da lösen wir uns von ihrer Lösung. Denn beide, Tolstoi und Dostojewski, retten sich aus dem eigenen Schrecken über den auf getanen, unüberbrückbaren Nihilismus, aus einer Urangst in eine religiöse Reaktion hinein, beide klammern sich, um nicht in ihren inneren Abgrund zu stürzen, sklavisch an das christliche Kreuz und verwölken in einer Stunde die russische Welt, da Nietzsches reinigender Blitz alle alten ängstlichen Himmel zerschlägt und dem europäischen Menschen den Glauben an seine Macht und Freiheit wie einen heiligen Hammer in die Hände legt.
Phantastisches Schauspiel: Tolstoi und Dostojewski, diese beiden mächtigsten Menschen ihres Vaterlandes, beide schrecken sie plötzlich auf, von apokalyptischen Schauern gepackt, aus ihrem Werke, und erheben beide dasselbe russische Kreuz, beide Christus anrufend und jeder einen andern, als Retter und Erlöser einer sinkenden Welt. Wie zwei rasende mittelalterliche Mönche stehen sie jeder auf seiner Kanzel, feindlich widereinander im Geist wie im Leben – Dostojewski, Erzreaktionär und Verteidiger der Autokratie, Krieg predigend und Terror, rasend im Machtrausch der übersteigerten Kraft, Knecht des Zaren, der ihn in den Kerker geworfen. Anbeter eines imperialistischen, welterobernden Heilands. Und ihm gegenüber Tolstoi, gleich fanatisch verhöhnend, was jener preist, ebenso mystisch anarchisch wie jener mystisch servil, den Zaren als Mörder, die Kirche, den Staat als Diebe anprangernd, den Krieg verfluchend, aber gleichfalls Christus auf der Lippe und das Evangelium in Händen – beide aber rückschrittlerisch die Welt in Demut und Dumpfheit zurücktreibend aus einem geheimnisvollen Terror der erschütterten Seele. Irgendein prophetisches Ahnen muß in den beiden gewesen sein, daß sie ihre apokalyptische Angst so schreiend über ihr Volk hinschütten, ein Ahnen von Weltuntergang und Jüngstem Gericht, ein seherisches Wissen, daß die russische Erde unter ihren Füßen trächtig war der ungeheuersten Erschütterung – denn was, wenn nicht dies, schafft Armut und Sendung des Dichters, daß er prophetisch das Feurige in der Zeit und den Donner im Gewölke vorausfühle, daß er gespannt und zerquält sei vom Kreißen der Umgeburt? Bußrufer alle beide, zornige und liebeswütige Propheten, stehen sie tragisch umleuchtet am Tor eines Weltuntergangs, noch einmal versuchend, das Ungeheure abzuwehren, das schon in den Lüften schwingt, alttestamentarisch gigantische Gestalten, wie sie unser Jahrhundert nicht mehr gesehen.
Aber nur zu ahnen vermögen sie das Werdende, nicht den Weltlauf zu wenden. Dostojewski verhöhnt die Revolution, und knapp hinter seinem Leichenzuge springt die Bombe auf, die den Zaren zerreißt. Tolstoi geißelt den Krieg und fordert die irdische Liebe: noch grünt nicht viermal die Erde über seinem Sarg, und der fürchterlichste Brudermord schändet die Welt. Seine Gestalten, die selbstgeschmähten seiner Kunst, überdauern die Zeit, aber seine Lehre zerbläst, der erste Anhauch und Wind. Den Zusammenbruch seines Gottesreiches, er hat ihn nicht mehr erlebt, aber wohl noch geahnt, denn im letzten Jahr seines Lebens, er sitzt ruhig im Kreise der Freunde, bringt ihm der Diener einen Brief, er öffnet ihn und liest:
»Nein, Leo Nikolajewitsch, ich kann nicht mit Ihnen darin übereinstimmen, daß die menschlichen Beziehungen allein durch die Liebe verbessert werden können.