Gesammelte Werke. Heinrich Mann

Читать онлайн.
Название Gesammelte Werke
Автор произведения Heinrich Mann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783869923963



Скачать книгу

Man war zu glauben versucht, daß ein Gerücht, in einem verschlossenen Zimmer ausgebrochen, mit dem Rauch des Ofens hinaus und über die ganze Stadt zog.

      Beruhigt war er trotzdem noch nicht. Er sagte sich, daß das gesunde Empfinden des arbeitenden Volkes unter Umständen ein Faktor sei, den man billigen und sogar benutzen könne. Bis zum Mittagessen ging er um Napoleon Fischer herum: da – es läutete schon – entstand bei der Satiniermaschine ein gellendes Geschrei, und Diederich und der Maschinenmeister, die gleichzeitig hinstürzten, zogen gemeinsam den Arm einer jungen Arbeiterin heraus, der von einer Stahlwalze ergriffen worden war. Er troff von schwarzem Blut, Diederich ließ sofort nach [pg 284]dem städtischen Krankenhaus telephonieren. Inzwischen, so übel der Anblick des Armes ihm machte, blieb er selbst dabei, während der Person ein Notverband angelegt ward. Sie sah zu, leise wimmernd und mit Augen, weich im Entsetzen, wie ein junges Tier, das getroffen ist. Diederichs menschenfreundliche Fragen nach ihren häuslichen Verhältnissen verstand sie nicht. Napoleon Fischer antwortete für sie. Ihr Vater war durchgegangen, die Mutter bettlägerig; das Mädchen ernährte sich und ihre zwei kleinen Geschwister. Sie war erst vierzehn Jahre alt. – Das sehe man ihr nicht an, meinte Diederich. Übrigens seien die Arbeiterinnen oft genug vor der Maschine gewarnt worden. „Sie hat sich das Unglück selbst zuzuschreiben, ich bin zu nichts verpflichtet. Na,“ sagte er milder, „nun kommen Sie mal mit, Fischer!“

      Im Kontor schenkte er zwei Kognaks ein. „Das kann man brauchen auf den Schrecken ... Sagen Sie ehrlich, Fischer, glauben Sie, daß ich zahlen muß? Die Schutzvorrichtung an der Maschine halten Sie doch wohl für genügend?“ Und da der Maschinenmeister die Achseln zuckte: „Sie wollen sagen, ich kann es auf einen Prozeß ankommen lassen? Das tue ich aber nicht, ich zahle gleich.“

      Napoleon Fischer zeigte verständnislos sein großes gelbes Gebiß, und Diederich fuhr fort: „Ja, so bin ich. Sie dachten wohl, das könnte bloß der Herr Lauer? Was den betrifft, so sind Sie ja jetzt durch Ihr eigenes Parteiblatt über seine Arbeiterfreundlichkeit aufgeklärt. Ich lasse mich freilich nicht wegen Majestätsbeleidigung einsperren und mache dadurch meine Arbeiter brotlos; ich suche mir praktischere Mittel aus, um meine soziale Gesinnung zu bekunden.“ Er machte eine feierliche Pause. „Und darum habe ich mich entschlossen, dem Mädchen die [pg 285]ganze Zeit, die es im Krankenhaus liegt, seinen Lohn weiterzuzahlen. Wieviel ist es denn?“ fragte er rasch.

      „Eine Mark fünfzig“, sagte Napoleon Fischer.

      „Na ja ... Soll sie acht Wochen liegen. Soll sie zwölf Wochen liegen ... Ewig natürlich geht es nicht.“

      „Sie ist erst vierzehn“, sagte Napoleon Fischer, von unten. „Sie kann Schadenersatz verlangen.“ Diederich erschrak, er schnaufte.

      Napoleon Fischer hatte schon wieder sein unbestimmbares Grinsen aufgesetzt und sah seinem Arbeitgeber auf die Faust, die angstvoll in der Tasche geballt war. Diederich zog sie hervor. „Nun setzen Sie die Leute von meinem hochherzigen Entschluß in Kenntnis! Das paßt Ihnen wohl nicht in den Kram? Die Gemeinheiten der Kapitalisten erzählt ihr euch natürlich lieber. In euren Versammlungen schwingt ihr jetzt wahrscheinlich große Reden über Herrn Buck.“

      Napoleon Fischer sah verständnislos aus, was Diederich nicht beachtete. „Ich finde es wohl auch nicht eben schön,“ fuhr er fort, „wenn jemand seinen Sohn ausgerechnet das Mädchen heiraten läßt, mit dessen Mutter er selbst was gehabt hat, und zwar vor der Geburt der Tochter ... Aber –“

      In Napoleon Fischers Gesicht begann es zu arbeiten.

      „Aber!“ wiederholte Diederich stark. „Ich wäre durchaus nicht einverstanden, wenn meine Leute sich deswegen den Mund verrenken, und wenn Sie, Fischer, nun vielleicht die Arbeiter gegen die städtischen Behörden aufhetzen, weil ein Magistratsrat etwas getan hat, was ihm keiner beweisen kann.“ Seine Faust schlug entrüstet durch die Luft. „Mir hat man schon nachgesagt, daß ich den Prozeß gegen Lauer angezettelt habe. Ich will an nichts schuld sein, meine Leute sollen sich ruhig halten.“

      Seine Stimme ward vertraulicher, er neigte sich näher zu dem anderen hin. „Na, und weil ich Ihren Einfluß kenne, Fischer ...“

      Plötzlich war seine Hand offen, und auf ihrer Fläche lagen drei große Goldstücke.

      Napoleon Fischer sah sie und verzerrte das Gesicht, als erblickte er den Teufel. „Nein!“ rief er, „und abermals nein! Meine Überzeugung kann ich nicht verraten! Für allen Mammon der Welt nicht!“

      Er hatte rote Augen und kreischte. Diederich wich zurück; so nahe hatte er dem Umsturz noch nie ins Gesicht gesehen. „Die Wahrheit muß ans Licht!“ kreischte Napoleon Fischer. „Dafür werden wir Proletarier sorgen: Das können Sie nicht verhindern, Herr Doktor! Die Schandtaten der besitzenden Klassen ...“

      Diederich hielt ihm schnell noch einen Kognak hin. „Fischer,“ sagte er eindringlich, „das Geld biete ich Ihnen dafür, daß mein Name in der Sache nicht genannt wird.“ Aber Napoleon Fischer wehrte ab; ein hoher Stolz erschien in seiner Miene.

      „Zeugniszwang, Herr Doktor, üben wir nicht. Wir nicht. Wer uns mit Agitationsstoff versorgt, hat nichts zu fürchten.“

      „Dann ist alles in Ordnung“, sagte Diederich erleichtert. „Ich wußte schon, Fischer, daß Sie ein großer Politiker sind. Und darum, wegen des Mädchens, ich meine die verunglückte Arbeiterin –. Ich habe Ihnen soeben mit meiner Mitteilung über die Buckschen Schweinereien einen Gefallen getan ...“

      Napoleon Fischer grinste geschmeichelt. „Weil Herr Doktor sagen, daß ich ein großer Politiker bin ... Ich will von dem Schadenersatz weiter nicht reden. Intimitäten aus den ersten Kreisen sind für uns doch wichtiger als –“

      „– als so ein Mädchen“, ergänzte Diederich. „Sie denken immer als Politiker.“

      „Immer“, bestätigte Napoleon Fischer. „Mahlzeit, Herr Doktor.“

      Er zog sich zurück – indes Diederich feststellte, daß die proletarische Politik ihre Vorzüge habe. Er schob seine drei Goldstücke wieder in die Tasche.

      Am Abend des nächsten Tages waren alle Spiegel des Hauses im Wohnzimmer zusammengetragen. Emmi, Magda und Inge Tietz drehten sich dazwischen umher, bis ihnen die Hälse schmerzten; dann ließen sie sich nervös auf den Rand eines Stuhles nieder. „Mein Gott, es ist doch Zeit!“ Aber Diederich war fest entschlossen, nicht wieder zu früh zu kommen, wie beim Prozeß Lauer. Die ganze Wirkung der Persönlichkeit ging zum Teufel, wenn man zu früh da war. Als sie endlich gingen, entschuldigte Inge Tietz sich nochmals bei Frau Heßling, daß sie ihr den Platz im Wagen wegnehme. Nochmals sagte Frau Heßling: „Ach Gott, es ist gern geschehen. Ich alte Frau bin zu schwach für so was Großes. Genießt ihr es nur, Kinder!“ Und sie umarmte unter Tränen ihre Töchter, die kühl abwehrten. Denn sie wußten, daß die Mutter bloß Angst hatte, weil jetzt überall von nichts weiter gesprochen wurde als von der furchtbaren Klatschgeschichte, an der sie selbst schuld war.

      Im Wagen fing Inge gleich wieder davon an. „Na, Bucks und Daimchens! Gespannt bin ich bloß, ob sie heute die edle Dreistigkeit haben und da sind.“ Magda sagte ruhig: „Das müssen sie wohl. Sonst geben sie ja zu, daß es wahr ist.“ – „Wennschon“, erklärte Emmi. „Ich finde, daß das ihre Sache ist. Ich rege mich darüber nicht auf.“ – „Ich [pg 288]auch nicht“, setzte Diederich hinzu. „Ich habe es eigentlich erst heute abend von Ihnen gehört, Fräulein Tietz.“

      Hierüber geriet Inge Tietz außer sich. So leicht dürfe man den Skandal denn doch nicht nehmen. Ob er glaube, daß sie sich das Ganze ausgedacht habe. „Die Bucks haben schon längst Butter auf dem Kopf wegen der Sache: das wissen ihre eigenen Dienstboten.“ – „Also Dienstbotenklatsch“, sagte Diederich, während er einen kleinen Stoß erwiderte, den Magda ihm mit dem Knie gab. Dann mußte man schon aussteigen und die Stufen hinuntergehen, die den neuen Teil der Kaiser-Wilhelm-Straße mit der tief gelegenen alten Riekestraße verbanden. Diederich fluchte; denn es begann zu regnen, die Ballschuhe wurden naß; auch standen vor dem Festlokal Proleten, die feindselig gafften. Hätte man nicht, als der ganze Stadtteil höher gelegt wurde, auch dieses Gerümpel niederreißen können? Das historische Harmoniehaus hatte erhalten werden sollen