DIE DODERER-GASSE. Nadja Bucher

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Название DIE DODERER-GASSE
Автор произведения Nadja Bucher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783903184749



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       NADJA BUCHER

       Die Doderer-Gasse

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       Heimitos Menschwerdung

      Roman

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      Aus Freundschaft

      Man will vielleicht des Gewesenen keineswegs zu jeder Zeit gemahnt sein.

      Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege

      Durchgangsquartier. Wir können hier nicht heimisch werden. Wir gehen rasch einen Korridor entlang, eine Tür springt auf, schon klappt sie hinter uns: das also war’s. Wir haben die Schönheit dieses Lebens, die Vollkommenheit dieser Welt – es ist sicher die beste aller möglichen Welten – nur gestreift, wie die Fäden des Altweibersommers im Herbste unsere Wangen streifen.

      Heimito von Doderer, Tangenten 1940–1950

      Wenn einer glaubt, er vermöchte neu geboren zu werden – sei’s auch nur zum Schriftsteller – ohne relativ fast unendlich erscheinende Qualen, ohne vielen Wechsel von Stehen und Fallen und immer wieder Stehen, wenn einer vermeint, es könne sich geistige Aktion vollziehen, ohne daß materielles Gefüge kracht und wie eine edle Liebhaberei bei sonst geordnetem Leben: wer sich die Sache so vorstellt, der irrt.

      ebd.

      Inhalt

       I. ZUR WELT KOMMEN

       II. KINDERFREUNDE

       III. EINS A

       IV. ZUKUNFT

      I. ZUR WELT KOMMEN

      GRELLES LICHT BLENDETE MICH. Noch nie erlebtes Schmerzausmaß. Atemnot, die den Brustkorb einschnürt. Was blenden mich diese Idioten denn so? Todespanik. Etwas war nicht, wie es meinem Empfinden nach hätte sein sollen.

      Erinnerungen stiegen heran, als blätterte ich durch ein Familienalbum mit sepiafarbenen Fotos. Ich als kleiner Junge im Wintermantel, im Hintergrunde unser Haus in der Prein. Als Schüler in kurzen Hosen zwischen Vater und Mutter vor der Stadtwohnung. Dieser Mann trübte die Freude meiner Kindheit, eigentlich meines gesamten Lebens, er gab wahrlich keinen Anlass zu Heiterkeit. Als Jüngling in der Uniform des k.u.k. Dragoner-Offiziers, die Hand lässig am Säbelknauf. Erster Weltkrieg. Sibirische Kriegsgefangenschaft, Schreibanfänge, schöne Zeit. Ich in meiner unrühmlichen Zwischenkriegszeit. Dann die noch größere Dummheit mit dem Zweiten Weltkrieg, lange Missachtung, fehlender Erfolg.

      Als Sechzigjähriger, Porträt eines Schriftstellers mit Pfeife im Mund, hohe Stirn, verbliebene Haare streng gescheitelt. Zerfurchtes Gesicht. Positionierung vor Bücherwand an Schreibtisch, der übervoll von Schriften ist, unterstreicht den Intellekt. Immer Hemd und Anzug, nie Hosenträger, manchmal Überzieher, schwungvoll geöffnet. Pfeife und Trenchcoat gehören zu mir, dem Kopfarbeiter, wie Fliege und Borsalino, erst später wurden daraus Accessoires für Kriminalbeamte. Auf wenigen Fotos lache ich. Heiterkeit steht diametral zu tiefgründigen Gedanken. Der Literat legt seine breite Stirn in Falten, reckt sein Kinn vor und denkt. Er beliebt in seinem Tun zu sitzen, was sich nachträglich auf seine Körperhaltung auswirkt. Aber er nimmt alle gesundheitlichen Opfer für sein Werk in Kauf: Schreiknötchen, Raucherlunge, Darmkrebs.

      Nach langer Dunkelheit öffneten sich Augen. Schon wieder blendete gleißendes Licht. Ich versuchte den verschwommenen Blick abzuwenden. Es misslang. Ich war schmerzendem Weiß ausgesetzt. War wie gefangen in beengter Bewegungslosigkeit. Was war mit mir geschehen? Weshalb schaltete niemand die Operationslampe ab?

      Ich erwachte erneut und sah klarer. Mein Blick fokussierte auf einfallendes Tageslicht an weißem Plafond, gelb-braune Farbflecken hoben sich seitlich daraus hervor, gehörten dem floralen Muster einer Tapete an, deren Hässlichkeit überbordend war. Ich hätte mich abgewendet, wäre ich dazu in der Lage gewesen. Ich trat und trampelte in mich selbst eingeschlossen, spürte einen Körper zappeln, war jedoch dumpf gelähmt.

      In unmittelbarer Nähe sah ich hölzerne Gitterstäbe, davor Hände, die ungeschickt in mein Gesichtsfeld wedelten. Sie waren winzig. Dazu vernahm ich glucksende Laute, die sehr junge Menschen abzusondern belieben. Langsam sickerte eine fatale Ahnung in mich ein, wonach mich keine Operation in mein altes Leben zurückgeholt hatte. Doch dies war kein geradliniges Denken, sondern wegen eingeschränkter geistiger Tätigkeit lediglich changierende Vermutung, die jenem Zustand beim Erwachen aus ernst zu nehmendem Rausche ähnelte.

      Ich verortete mich rücklings auf dem Boden eines Gitterbetts.

      »Marie, meine kleine Prinzessin, bist du hungrig?«, beugte sich eine junge Frau freudestrahlend über mich. Sie hatte ihr platinblondes Haar zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Hier musste ein Irrtum vorliegen. Vieles war ich geheißen worden, doch weder Marie noch Prinzessin. Die glückliche Frau hob mich zu sich empor, setzte einen Kuss auf die Stirn, die sich nicht wie meine anfühlte, strich über die Backe, berührte mich allerdings nicht. Ihr Lächeln verstärkte sich noch. Kurz sah ich eine Brustwarze aufblitzen, dann schwanden mir die Sinne.

      Als sich mir das nächste Mal Augen öffneten, bot sich ein vertrautes Bild. Weißer Plafond, braun-gelbe Blumentapete, hölzerne Gitterstäbe. Der Gesamteindruck drängte mir die gedankliche Verknüpfung von Kinderzimmer mit Gefängnis auf, was in Anbetracht so mancher Kindheit eine legitime, in meinem Fall jedoch keine rein metaphorische war. Ich befand mich tatsächlich in Gefangenschaft, war eingesperrt im Körper eines Menschen namens Marie. Dieser Argwohn erstand nicht aus scharfen Überlegungen, wie überhaupt Präzision nach neuerlicher Bewusstwerdung nicht allzu viel wog. Auch richtete sich mein Zeitempfinden nach keinem exakten Chronometer. Zeit ist nach dem Tode in höchstem Grad persönlich, ihre Wahrnehmung abgelöst, ja befreit von jedweder Messung. Vielmehr glich die Trennung von Dahindämmern und Wirklichkeit dem Waten in weichem Schlick, bei welchem scheinbar aus dem Nichts diffuse Gefühle aufwallten, die beständig zwischen Orientierungslosigkeit und Hoffnung schwankten, meist jedoch enttäuscht wurden.

      Aus diesem Dusel filterte ich, dass Marie ein Neugeborenes war und sich altersadäquat verhielt. Die freudestrahlende, wasserstoffperoxidblonde Frau mit spendabler Brust musste zweifelsohne ihre Mutter sein, deren Gesicht schon wieder über mir erschien, was Maries Strampeln verstärkte und Quieken auslöste. Ich nützte die Gelegenheit und machte mit kräftigen Rufen auf mich aufmerksam, stellte mich namentlich vor, gab Mutmaßungen bezüglich meines Aufenthaltsorts im Kinde an, ja trug alle bisherigen Erkenntnisse meiner jüngsten Vergangenheit zusammen und gab sie der Mutter preis. Ich tat alles in meiner Macht Stehende, um in Kontakt mit dieser Frau zu treten.

      »Marie, mein Schätzchen«, antwortete sie, was mich zu der Schlussfolgerung zwang, dass sie mich weder gehört noch wahrgenommen hatte, daher in Unkenntnis über meine Existenz war. Ein erschütterndes Gutachten mit betrüblichen Prognosen für meine Zukunft. Sofern es mir nicht gelingen würde, mit und durch Marie zu sprechen, gäbe es für mich keine Chance, mit der Außenwelt in Austausch zu gelangen.

      »Ja, komm her, mein süßer Schatz«, sagte die Mutter und hob Marie hoch, küsste sie und legte sie an ihre Schulter. In dieser Position war es mir möglich, den Raum besser zu überblicken. Seine Reize waren bescheiden. Das Gitterbett stand an der Wand neben der Tür. Ein dunkelbrauner Einbaukasten zog sich über die Längsseite des Zimmers. Gegenüber der Tür war ein doppelflügeliges Fenster, davor hing ein dünner, bodenlanger Vorhang. Braunes Sofa mit Samtbezug und passendem Fauteuil standen über Eck