Die kleine Stadt. Heinrich Mann

Читать онлайн.
Название Die kleine Stadt
Автор произведения Heinrich Mann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783869923970



Скачать книгу

fort und raunte:

      „Schon die Frau des Alten ist dort oben gestorben. O, das sind Geschichten, die niemand mehr verbürgen kann. Sie soll ihm entflohen sein, mit einem Offizier; und als sie, krank und reuig, zurückkam, hat er sie da oben einquartiert . . . Auch seine Tochter ist, als ihr Mann tot war, hinaufgestiegen und hat droben schnell geendet. Warum sterben hier alle, sind traurig und halten es mit den Priestern? Es wird am Schatten liegen; denn kaum, daß den Rand des Gartens zur Mittagsstunde ein wenig Sonne berührt; — und man mag sagen, was man will, das Leben im ewigen Schatten verdirbt das Blut und verschlechtert den Charakter. Wollen Sie ein Beispiel? Gehen Sie nach Spello hinunter: es liegt in der Sonne. Alle Männer haben dort Tenorstimmen, alle Frauen sind dick und schön. Gegenüber, am Nordabhang, ist Lacise. Nun wohl, mein Herr: die Frauen von Lacise sind gelb und schmutzig und die Männer allesamt Räuber.“

      „Jawohl, jawohl. Aber Sie sagten, daß aus diesem Hause jede Frau dort oben —“

      „Jede kommt ins Kloster,“ — und der Advokat schob mit gespreizter Hand alle Hoffnung fort.

      „Aber heutzutage —“

      Nello mußte hinunterschlucken.

      „— ist man aufgeklärt, nicht wahr?“

      Da der Advokat nur die Luft ausstieß:

      „Auch wird ein alter, alleingebliebener Mann sich nicht früher als nötig von seiner Tochter trennen.“

      „Nötig? Sie wissen also nicht, was solch ein Fanatiker nötiger hat: die Liebe einer Tochter oder den Segen der Pfaffen? O! mein Herr, es ist nur allzu gewiß, daß unserer Gegend ein großer Schade bevorsteht und eine unserer reichsten Erbinnen in sträflicher Weise der Welt, der bürgerlichen Gesellschaft, dem Familienleben und dem gemeinen Nutzen entzogen werden wird!“

      Die Miene des Fremden hatte auf einmal etwas Dunkles und Höhnisches.

      „Gewiß wartete schon mancher auf sie? Und in der Stadt werden Sie einen Zirkel haben, wo Alba als junge Frau getanzt und Gedichte hergesagt hätte? Und den Armen hätte sie Suppe gekocht? Hätte auch Liebhaber gehabt? Vielleicht Sie selbst, Herr Advokat?“

      „Eh! weiß man das jemals?“ keuchte Belotti und riß Schultern und Arme zurück. Der junge Mann wendete sich umher. Aber auflachend:

      „Auch die Klöster wollen leben; und dort oben wird sie wenigstens allein und frei sein!“

      Ah! tausendmal lieber wollte er sie dort oben verschwunden, begraben wissen, als lebend unter Gemeinen, auf gemeinen Plätzen, in gemeinen Armen!

      „Sie wird rein sein“, dachte er, indes der Advokat ihn enttäuscht betrachtete, — und wunder und bebender: „Nie werde ich sie wiedersehen. Aber auch kein anderer wird sie sehen.“

      Da sprang er zurück und griff nach dem Geländer.

      „Was ist geschehen?“ fragte der Advokat erschreckt. Der Tenor hielt die Hand aufs Herz gedrückt und antwortete nicht. Der Advokat folgte seinem verstörten Blick, der in die offene Terrassentür ging.

      „He! Niccolo! da sind wir“, rief er, und der Bursche kam hervor mit dem gefüllten Netz.

      „Ah, Sie sind schreckhaft, junger Mann,“ — und Belotti klopfte Nello auf die Schulter. „Sie haben Nerven: wie alle Künstler. Man weiß auch, wovon.“

      Er zwinkerte und klopfte. Nello entriß ihm die Schulter. Er beugte sich über die Balustrade und schloß die Augen. Sie hätte es sein können! Was sollte geschehen, wenn er sie wiedersah! Schon diese Nacht, verlebt in ihrem Bereich, unter Dingen, die ihre waren, hatte ihn entzückt und erschöpft.

      Er stieg, unbeachtet von den beiden, die über den Preis der Eier stritten, in den Garten hinab. War nicht dies die Bank, auf der er geruht hatte und wo gewiß auch sie sich niedersetzte? Im Dunkeln hatte er auf dem Wege nach einer Spur ihres Fußes getastet, hatte seine Hand darin gekühlt und seine Lippen darauf gedrückt. Wo war nun die Spur?

      „Habe ich sie mir denn vorgetäuscht? Ach, ich schmeichelte mir auch, der Nachtwind bringe mir den Duft ihres Zimmers: ihren Duft; und bloß das Beet hier war es, das ich roch. Ich bin ein Narr, bin lächerlich. Habe ich nicht auf diesen Brunnenstufen zu sterben gedacht — und von ihr gefunden zu werden, wenn sie am Morgen die Frische des Quells aufsuchte? Jetzt ist es schon heiß, mich dürstet, und ich fühle mich, noch unter ihren Fenstern, so fern von ihr und allein.“

      Er sah in der Schale, woraus er trank, seine schmerzerfüllten Augen, hörte auf den begrünten Quadern, die Zypressenreihe entlang, seinen dumpfen Schritten zu und fand die kleine Pforte wieder, die er schon bei tiefer Nacht in den Angeln gehoben hatte, damit sie nicht knarrte. Auf der Landstraße ging er rasch davon; und im Gehen breitete er die Arme aus, und nun wieder, und schüttelte dazu den Kopf.

      Als der Advokat Belotti ihn einholte, sah Nello verwirrt umher: wo war er doch?

      „Mein armer junger Freund, Sie müssen taub geworden sein; ich schreie und schreie: Sie laufen immer rascher . . .“

      Da der Tenor sich nicht entschuldigte, tat Belotti es. Er habe warten lassen; aber wenn man wüßte, wie genau seine Schwester es mit den Eiern nehme; — und er wog das Netz in der Hand.

      „Die schlechten muß ich bezahlen. Ah, die Frauen! Aber beachten Sie das städtische Waschhaus! Ich bin es, der seine Errichtung beantragte und, wieder einmal dem Ignoranten Camuzzi zum Trotz, durchgesetzt hat. Es hat mir Genugtuung bereitet, zum Wohl der Frauen arbeiten zu können, und sie sind mir erkenntlich dafür, sie verbreiten meinen Ruf als Volksfreund. Guten Tag, Fania, guten Tag, Nanà!“

      Der Barbier Nonoggi kam ihnen entgegen. Er ging wippend und ganz auf die linke Seite gelegt. Rechts trug er seine abgeschabte Ledertasche und schwenkte sie bei jedem Schritt, indes der linke Arm steif blieb. Bis auf den Boden zog er schon von weitem den Hut, grimassierte und krähte dazu.

      „Guten Morgen den Herren! Welch glänzender Tag. An solchem Tage stirbt man nicht!“

      „Wir denken nicht daran, Nonoggi“, erwiderte der Advokat. „Ihr geht wohl zum Nardini? Grüßt ihn von mir: ich sei heute bereits in Geschäften bei ihm gewesen.“

      „Sie sehen schlecht rasiert aus“, sagte der Barbier zu Nello Gennari. „Das mißfällt den Frauen, mein Herr. Wenn Sie sich mit dem Sitz auf jenem Stein begnügen wollen — er ist im Schatten —, bediene ich Sie sogleich . . . Sie wollen nicht? Sie haben unrecht. Wir sehen uns also ein andermal. Euer Diener, ihr Herren!“

      Der Advokat rief ihn zurück. Er wartete, bis der Barbier nahe herangekommen war, sah sich um und sagte halblaut:

      „Nonoggi, habt Ihr den Baron gesehen? . . . Ich auch schon. Nonoggi, es ist etwas vorgefallen zwischen ihm und jener Fremden im „Mond“, der Komödiantin . . .“

      „Ah! Ah!“

      Der kleine Mann riß seine unsauberen Augen auf und zu. Er zuckte; die roten Rinnsale in seiner Gesichtshaut führten blutige Tänze auf.

      „Nonoggi,“ fuhr der Advokat fort, „wir müssen in dieser Sache sehr vorsichtig sein: es ist eine so alte Familie. Ihr erfahrt es doch, daher erbitte ich Euer Schweigen.“

      Der Barbier hatte schon längst die Hand auf dem Herzen; er hüpfte, dienerte, machte den Mund rund und streckte den Arm mit der Tasche von sich.

      „Wie es bedauerlich ist,“ sagte er, „wenn selbst die Herren sich vergessen. Andererseits sieht man es gern. Genug, wir werden schweigen. O! der Herr Advokat kennt mich, wie ich ihn kenne.“

      „Wir haben sonst nicht mehr und nicht weniger als einen Skandal, Nonoggi, — obwohl es eine verzeihliche Verirrung ist. Aber wir müssen mit Leuten wie jener Priester rechnen.“

      „Ob wir damit rechnen, Herr Advokat! Was würde sonst aus uns selbst? Würde unsereiner der Schwäche seines Fleisches immer widerstehen? Denn was insbesondere die Perückenmacher angeht, so haben sie alle häßliche Frauen. Es ist sonderbar, es ist rätselhaft, aber es ist eine Tatsache.“

      Er