Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen. Wolfgang Kohlhaase

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Название Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen
Автор произведения Wolfgang Kohlhaase
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783803143136



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Er stellt ihm dar, daß er seit langem einen Mann mehr im Kommando brauche, nie hätte der Richtige sich gefunden, aber jetzt sei ihm jemand aufgefallen durch besondere Anstelligkeit. Der Rottenführer nickt zu dieser Rede. Er hat auch nichts dagegen, sich einen so hervorstechenden Mann einmal anzusehen. Battenbach hinter sich, stelzt er zu den Kartoffelschälern hinüber und betrachtet sich den halbverhungerten Holländer, vormals Physikstudent, sechs Semester lang, aber was interessiert das Roeder. Was den interessiert, das sieht er schon, und zwar sieht er, daß dieser Mann nicht einmal ahnt, wie man Kartoffeln schält, so verzweifelt er sich auch anstrengt. Aber darauf kommt es nicht an, weil der Rottenführer zweimal die Woche ein Stück Wurst mitnimmt, sonntags einen Braten und immer mal einen Würfel Margarine. Das alles kommt von Battenbach. Also nickt Roeder ein zweites Mal und geht wieder in seinen Verschlag zurück und schreibt Namen und Nummer auf einen Zettel. Der gelangt später am Tag zur Arbeitsstatistik. Von dort zum Arbeitsdienstführer. Und am nächsten Morgen, der feucht über den Appellplatz steigt, kehrt Straat als einziger von zehn Kartoffelschälern in die Küche zurück, wo Battenbach ihm freundlich auf die Schulter haut.

      Denn Straat ist nun Battenbachs Mann. Der soll nicht zu Knochenasche verbrannt werden, der kriegt Suppe und Brot, damit er wieder hochkommt. Um so einen Kopf ist es schade, sagt sich Battenbach und reibt sich die Hände, weil man ihn zwar eingesperrt hat, wegen Zuhälterei, unpolitisch, aber daß er nun Persisch lernt, das verhindern sie nicht. Das kann auch Roeder nicht wissen, der die ersten Tage um Straat herumstreicht und sich etwas zu denken versucht, das kann er nicht wissen, daß den satten Kapo und den hungrigen Holländer eine besondere Sprache verbindet. Aber daß es diese Sprache gar nicht gibt, das kann selbst Battenbach nicht wissen. Das weiß nur Straat. Er allein bestimmt über Regeln und Wörter. Wie viele Wörter wird er brauchen, an wie vielen Tagen?

      Mittags, sobald der Rottenführer Roeder zum Essen weg ist, ruft Battenbach Straat in die Schreibstube und setzt sich gesammelt hinter den Tisch, vor sich geglättetes Papier und einen Bleistiftstummel, bereit, sich Persisch anzueignen. Am ersten Tag will er auch Allgemeines über Persien hören. Straat läßt es dort heiß sein und läßt die Frauen schön und die Armen arm und die Reichen reich sein. Battenbach ist befriedigt, so hat er es sich vorgestellt. Er selbst kommt aus der Vergnügungsbranche, gibt es das auch? Puffs? Straat weiß nicht gleich, Battenbach macht sich verständlich. Ja, natürlich, unbedingt, sagt Straat. Und Battenbach nickt, es ist, wie er dachte. Aber jetzt will er ein paar Wörter wissen: Schnaps, Polizei, danke, bitte, Tisch, Stuhl, Bett, Kantine, Kotelett. Straat darf nicht zögern, nicht am ersten Tag. Er nennt alles der Reihe nach: alan, monato, laps, nam, toki, sol, oltok, runidam, kotelett. Das ist ein Leihwort, sagt Straat, das ist international.

      Mit schwerer Hand schreibt Battenbach sich alles auf. Abends, unter der zerlumpten Decke, an seiner Schulter die Schulter des Nachbarn, der mit ihm die Pritsche teilt, eine lähmende Mattigkeit hinter den Augen, abends sucht Straat nach Wörtern, vor allem aber nach einem System, mit dessen Hilfe er sie sich merken kann. Der schwere Atem der Erschöpften umgibt ihn, der Mann neben ihm stöhnt im Schlaf, Straats Lippen formen Bedeutungen, die nie jemand gehört hat: or, tal, mel, met, meb, das heißt: ich, du, er, sie, es.

      Battenbach schlägt ihm die Faust zwischen die Augen, tritt ihn vor das Schienbein, stößt ihn gegen die Wand, Battenbach zittert vor Wut und Enttäuschung. Es ist wegen runidam, dem persischen Wort für Kantine. Straat hat es am ersten Tag erfunden und nun, wo Battenbach ihn danach fragt, hat er es vergessen. Und Straat wußte, daß ihm etwas entfallen war, aber Battenbach hat ihn keinen Blick auf seinen Zettel werfen lassen und hat zwei Tage gewartet und hat neue Wörter notiert und hat sie sich buchstabieren lassen, nur damit Straat ihm nicht über die Schulter sieht, und jetzt hat er ihn zwischen den Fäusten und wird dieses holländische Schwein überführen, noch ehe die Mittagspause vorbei ist. Zehn Jahre ist es her, schreit Straat verzweifelt, seit er in Persien war, er war noch ein Kind und runidam ist ein sehr seltenes Wort, es ist ihm nur zufällig eingefallen, Kantine heißt eigentlich mardam, aber wenn er nicht Papier und Bleistift kriegt, kann er seine Erinnerung nach so langer Zeit nicht auffrischen.

      »Ich lasse dich krepieren«, sagt Battenbach. Dann schweigen sie. Straat lehnt an der Wand und sieht den Kapo mit bangen Augen an, und der starrt auf die Stirn des Jungen, über die sich grau die Haut spannt, er sieht die Ader in der Schläfe klopfen, verflucht, wenn er dem in den Kopf blicken könnte. Ein Zweifel schleicht sich in sein Mißtrauen, ein Zweifel, dem er nachgeben möchte. Denn schon hat sich in wenigen Tagen die Sprache in sein Gemüt gehakt. An den leeren Abenden, an denen er von seinem Fenster über den Appellplatz sieht, erfüllt von einem stumpfen Haß auf die Welt, heimgesucht von Erinnerungen an Weiber, ist er, mit Hilfe der schwierig zu erlernenden persischen Vokabeln, mit einem Mal ein Mann geworden, der die Stunden nutzt und weiterdenkt und der seine geheimen, weitreichenden Pläne hat.

      »Junge, wenn du mich betrügst. Wenn du nicht Persisch kannst«, sagt Battenbach, und die Ungeheuerlichkeit des Gedankens läßt seine Stimme schwanken. »Ich kann«, sagt Straat. »Ich kann Persisch. Es ist nur lange her.« Fortan verfügt Straat über Bleistift und Papier, Reichtümer, für die man in den Bunker kommen kann. Wenn sie ihn damit erwischen, weiß Battenbach von nichts. Straat verbirgt den Bleistift im Schuh und das Papier in der Mütze. Über dem Hirn, zwischen dem geschorenen Haar und dem Mützenstoff trägt er die Sprache. Beim Appell muß er aufpassen, vor allem beim Kommando »Mützen ab«. Die Sprache kann herausfallen. Sie kann entdeckt und ihm weggenommen werden. Dann ist er, was immer geschieht, verloren, seine Wächter oder sein Schüler werden ihn erschlagen. Allabendlich verbirgt er auch Brot oder ein paar Kartoffeln in seiner Kleidung, er bringt sie einem Pritschengenossen, einem Elektriker aus Groningen, Steinbruchkommando, der wiegt noch neunzig Pfund.

      An seiner Sprache arbeitet Straat nachts. Er verdreht Buchstaben und Silben, so erfindet er Wörter. Die besonderen deutschen Einrichtungen, die ihn umgeben, gehen in seine Sprache ein. Wenn er ihnen einen Klang gibt, der ihn fortträgt, nicht nach Persien, aber in eine fremde und stille Welt, in solchen Momenten entkommt er ihrer furchtbaren Bedeutung. Rium, rema, matori, muro, kemato, ikre, tarne, muir, rotam, kretum, orite, mekor, kumo, emati, katu, meri, tamku, taritora.

      Das alles gewinnt er aus Krematorium. So geht es mit Arrest und Baracke, mit Steinbruch und Stacheldraht und selbst mit Battenbach, seinem Beschützer, der auf diese Weise aus sich selbst lernt. Aus dem fetten, schwarzen Rauch wird hacur, der Wind.

      Straat schreibt sich seine Wörter im Dunklen auf sein Papier, so klein wie möglich. Er versteckt das Papier in der Mütze und packt die Mütze unter den Strohsack. Er erfindet nicht mehr als fünf Vokabeln in der Nacht, dreißig die Woche, das reicht auch für Battenbach. Den Sonntag lassen sie aus. Straat ißt zwei Teller Suppe an jedem Tag, er wird kräftiger, er bemerkt, wie es Sommer wird, von entfernten Feldern kommt ein Geruch von blühender Lupine. Ein Holländer aus der Arbeitsstatistik wartet in der Latrine auf ihn.

      »Was machst du mit dem Kapo in seinem Verschlag jeden Mittag?«

      »Was geht es dich an«, sagt Straat mißtrauisch.

      Der andere sieht ihn nachsichtig an. Er sagt: »Du bist nicht zufällig zum Kartoffelschälen gekommen. Wir haben dich dazugeschrieben, weil du der letzte von den Studenten warst. Damit du dich einen Tag erholen kannst.« Er macht eine Pause, er sagt: »Und dann hat Battenbach dich angefordert. Warum?«

      Stille, bis auf das Gesumm der grünschillernden Fliegen. Und Straat sieht in den Augen des anderen nicht nur Verdacht, sondern Angst und Mitgefühl, aber auch Unnachsichtigkeit und Härte, er ahnt in diesem Augenblick, daß ihn die Sprache, die nur er kennt, nicht nur schützen, sondern auch verderben kann, weil sie ihn über seinen Nächsten erhebt. Aber er fürchtet sich, sein Geheimnis zu verraten, auch dem nicht, der sein Freund sein kann, denn wer ist wirklich sein Freund? Am ehesten vielleicht der Junge aus Groningen, auf der Pritsche neben ihm, dem er Brot, Kartoffeln und Mut mitbringt, doch auch den weiht er nicht ein.

      Sommer vierundvierzig. Die Silberschnüre der Bomber ziehen sich über den deutschen Himmel. Straat macht ein Wort für Leben, er nennt es: sawal. Und ein Wort für Apfelbaum, zum Spaß, das heißt pollimolli. Nicht Battenbach zuliebe. Der lernt Zahlen und Redewendungen und Gegenstände aus der Vergnügungsbranche, auf eigenen Wunsch. Wenn Battenbach Launen hat, erfindet Straat Rachewörter. Eins heißt: suliduladornatlam. Battenbach will