Konnte sie denn nicht sehen, dass Jule nicht wirklich zu Janko passte? Dass der Hengst und Charly eigentlich das bessere Paar waren? Und was sollte das überhaupt heißen, bei einem Pferd wie Janko ging es um alles? Und man musste das wirklich wollen?
Charly war verwirrt. Was wollte sie eigentlich? Sie hatte immer nur ein Ziel gehabt: eine super Dressurreiterin zu werden. Mit Daisy waren ihr die besten Bedingungen dafür quasi in den Schoß gelegt. Jede Woche machte sie Fortschritte, schon bald konnten sie erste Prüfungen gehen.
Mit Janko war es etwas ganz anderes – irgendwie ging ein Zauber von ihm aus. Ja, er hatte sie regelrecht verzaubert. Hatte ihre Ziele komplett auf den Kopf gestellt. So bildschön er auch war, von seinem Exterieur und Gangwerk her war er weit davon entfernt, das perfekte Dressurpferd zu sein. Barocke Dressur vielleicht, aber mit den großrahmigen Sportpferden, die sich auf den Turnieren tummelten, konnte er nicht mithalten.
Doch was war wirklich wichtig? Wenn sie Janko sah, ging ihr Herz auf. Sie wurde innerlich ganz leicht und froh. Er machte sie glücklich. Und zwar nicht durch irgendetwas, das er leistete, sondern durch seine reine Anwesenheit. Einfach dadurch, dass er war, wer er war.
Das Gespräch mit Andrea hatte eine Tür geöffnet, die sich nicht mehr schließen ließ. Und wenn Charly ehrlich war, wollte sie das auch gar nicht.
Jedes Mal, wenn sie in die Stallgasse kam, begrüßte sie der Hengst jetzt mit einem trompetenhellen Wiehern, als wolle er sagen: Wann kommst du endlich zu mir?
Charly konnte dann einfach nicht anders, als zuerst in seine Box zu gehen, um mit ihm zu schmusen, auch wenn sie Jule gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte.
In der Reitstunde beobachtete sie ihre Schwester und machte sich viele Gedanken darüber, wie man die Dinge lösen konnte, mit denen Janko noch Schwierigkeiten hatte – wie zum Beispiel das Angaloppieren auf der linken Hand.
„Stell doch einfach mal ein Cavaletti im Scheitelpunkt vom Zirkel auf, da hast du ihn schon schön nach innen gestellt und kannst ihn direkt nach dem Sprung angaloppieren. Das hilft ihm bestimmt“, meinte sie eines Tages zu ihrer großen Schwester.
Was hätte Charly darum geben, sich selbst auf den Hengst zu setzen, um es auszuprobieren. Aber nach Andreas strengen Worten traute sie sich nicht, noch mal zu fragen.
Dann kam der Sommer. Andrea musste beruflich auf eine Fortbildung und Jule und Charly durften die Pferde zum ersten Mal allein betreuen. Eine ganze Woche lang, mitten in den Sommerferien!
Schon frühmorgens brachen sie mit einer gut bestückten Kühlbox von zu Hause auf, ihre kleine Schwester Isa im Schlepptau. Sie war mittlerweile zu ihrer Haus- und Hof-Filmerin aufgestiegen. Allerdings stapelte sich das ganze Filmmaterial noch auf Isas Computer, wo sie wild daran herumschnitt. Charly hatte zwar schon einige Videos von ihrem Training angesehen, aber immer wenn sie Isa fragte, was sie denn daran noch bearbeiten würde, machte die ein riesiges Geheimnis daraus. Isas „großer Film“ war inzwischen fast schon ein Running Gag in der Familie Sommer.
Am Stall angekommen, verstauten sie als Erstes die Kühlbox und gaben Janko und Daisy ein paar mitgebrachte Äpfel und Möhren.
„Ich finde, wir lassen es bei dem tollen Wetter ganz entspannt angehen“, meinte Charly an ihrem ersten Morgen zu Jule und Isa. „Vielleicht einen gechillten Schrittausritt ohne Sattel, solange es noch nicht so heiß ist. Dann mit den Pferden auf der Koppel im Schatten abhängen, zwischendurch mal kalt abduschen und abends gemütlich füttern, oder?“
„Also ich würde gerne auch was am Boden machen. Ich habe ein paar Zirkuslektionen, die will ich mit Janko mal ausprobieren“, erwiderte Jule.
Charly fühlte bei Jules Worten einen Stich.
Bodenarbeit war so gar nicht Daisys Sache. Sie war dazu ausgebildet, perfekt im Dressurviereck zu laufen, aber wenn es darum ging, irgendetwas spielerisch auszuprobieren, wirkte sie merkwürdig dumpf und teilnahmslos. Janko war dagegen unglaublich gelehrig und klug, und irgendwie brodelte in Charly jedes Mal die Eifersucht, wenn sie sah, wie Jule ihn zum Spanischen Schritt oder dem Kompliment anleitete. Janko versprühte dabei so viel Neugier und Offenheit, dass Charlys Herz ihm noch mehr zuflog.
„Kannst du Janko nicht beibringen, auf Kommando zu flehmen, Jule?“, riss Isas Stimme Charly aus ihren Gedanken. „Das würde total süß aussehen in meinem Film!“
„Welcher Film, Isa?“, gab Jule zurück und zwinkerte Charly verschwörerisch zu. „Wird das noch was in diesem Leben?“
„Ich bin fast so weit. Ein paar Sachen brauche ich noch, damit er richtig gut wird. Also bring Janko jetzt gefälligst etwas Lustiges bei!“, beharrte Isa.
„Ich kann ja mit ihm was üben“, ergriff Charly schnell das Wort.
Bevor Jule antworten konnte, trat Charly vor Jankos Box und deutete mit dem Finger auf ihre Wange. Dazu sagte sie „Kussi“.
Sofort streckte der Hengst seinen Hals vor und knibbelte zärtlich an Charlys Wange, wie er es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte. Charly lachte auf und lobte ihn dann ausgiebig.
„Nein, wie süß, der küsst dich ja wirklich!“, rief Isa verzückt aus. „Mach noch mal, das muss ich aufnehmen.“
Charly deutete mit dem Finger auf ihre andere Wange und sagte „Kussi“ und wieder bekam sie von Janko mit den Lippen ein zärtliches Knibbeln.
„Hallo? Kannst du mal bitte aufhören, meinem Pflegepferd so einen Scheiß beizubringen?“, schaltete sich Jule in gespielter Entrüstung ein.
„Alles gut“, erwiderte Charly. „Kannst Daisy ja auch was zeigen. Und jetzt lasst uns die Pferde endlich auf die Weide bringen!“
Zärtlich klopfte sie noch einmal Jankos Hals und wandte sich dann der geduldig wartenden Daisy zu.
Als habe Janko es sich zu Herzen genommen, dass Isa für ihren Film noch ein paar lustige Szenen brauchte, entpuppte er sich in den nächsten Tagen als richtiger Clown. So gewöhnte er sich plötzlich an, seine Fliegendecke auf der anderen Seite herunterzuziehen, sobald Jule sie ihm für die Weide aufgelegt hatte. Das brachte Jule fast zur Verzweiflung.
„Gib zu, du hast ihm das beigebracht!“, schimpfte sie vor sich hin, während sie zum gefühlt hundertsten Mal auf Jankos andere Seite hechtete, um die Decke vor dem Runterfallen zu retten.
Charly und Isa wollten sich wegschmeißen vor Lachen.
„Ich schwöre, damit habe ich nichts zu tun“, prustete Charly zwischen zwei Lachanfällen hervor.
Ein anderes Mal hatte Jule Jankos Anbindestrick schon gelöst, musste aber noch die Fliegenmaske aus dem Spind holen. Also nahm Janko das herunterhängende Ende des Stricks ins Maul und marschierte schon mal allein Richtung Weide. Jules verblüfftes Gesicht, als sie mit der Maske aus der Stalltür trat und ihr Pferd nur noch von hinten sah, wurde von Isa natürlich sofort festgehalten.
Am vierten Tag ihres „Pferdesommers“ hatte Isa eine neue Idee.
„Ich würde die Pferde so wahnsinnig gerne im Wasser filmen! Ich glaube, hier in der Nähe ist ein kleiner See. Wie wär’s, wenn ihr dahin reitet und wir dann den Tag dort verbringen?“
Charly war von der Idee sofort begeistert, auch wenn Jule meinte, dass viele Pferde doch eigentlich ziemlich wasserscheu wären. Aber schließlich ließ sie sich überzeugen.
Nach einem halbstündigen gemütlichen Schrittausritt erreichten sie den kleinen Waldsee. Sie waren die einzigen Besucher. Isa war schon mit dem Fahrrad vor ihnen angekommen und hatte eine Decke und ihr ganzes Filmequipment am Seeufer ausgebreitet.
An dieser Seeseite war das Ufer schön flach und Charly ritt gleich zielgerichtet auf den Saum des Wassers zu. Sie saß ohne Sattel auf Daisy und hatte ihr nur eine alte Trense angezogen. Nach kurzem Zögern machte die schwarze Stute ein paar Schritte in den See hinein und fing an, mit den Vorderhufen im Wasser