Название | Psychische Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern |
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Автор произведения | Margarete Bolten |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170362925 |
1.1 Entwicklungspsychopathologische Grundlagen
Verhaltensprobleme und psychische Störungen können bereits bei Säuglingen und Kleinkindern auftreten. Entsprechend dem Entwicklungsstand sehr junger Kinder, sehen wir vor allem Schwierigkeiten mit der Verhaltensregulation in verschiedenen Kontexten. Dies ist im Altersbereich von 0–3 Jahren vor allem die Regulation von Erregungen und Stress (bzw. Emotionen), Verhaltensabläufen, des Schlaf-Wach-Rhythmus und der Nahrungsaufnahme. Im folgenden Kapitel sollen deshalb die Erscheinungsbilder der drei Hauptproblembereiche Schreien, Schlafen und Nahrungsaufnahme beschrieben werden. Dabei werden neben den jeweiligen Definitionen von Störungen in diesen Bereichen auch psychopathologische Entwicklungsmodelle und die Klassifikationsmöglichkeiten aufgezeigt.
Das Entwicklungsmodell von Sroufe (1989) sieht in den ersten sechs Lebensjahren eines Kindes folgende Entwicklungsaufgaben vor:
1. Regulierung innerer Abläufe wie beispielsweise Schlaf und Nahrungsaufnahme (0–6 Monate)
2. Bindung und motorische Selbstkontrolle (6–12 Monate)
3. Sprache, Exploration und Autonomie (1–3 Jahre)
4. Impulskontrolle und Beziehung zu Peers (3–6 Jahre)
1.2 Symptomatik und Klassifikation
Störungen in der frühen Kindheit sind eng mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems und der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben verknüpft. Daraus folgt, dass sich die Symptomatik bei sehr jungen Kindern zumeist anders als bei älteren Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen äußert und sich mit zunehmendem Alter verändern kann. Folglich müssen bei der Beurteilung eines Kindes im Säuglings- und Kleinkindalter entsprechende Normvarianten von pathologischen Abweichungen des Verhaltens und der Emotionalität unterschieden werden.
Merke
In Anlehnung an Steinhausen (2019) gilt ein Verhalten dann als auffällig, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
a) das Verhalten ist hinsichtlich des chronologischen Alters bzw. des Entwicklungsalters nicht angemessen;
b) die Symptome persistieren über eine spezifische Dauer hinweg und
c) im Rahmen soziokultureller und ökonomischer Rahmenbedingungen wird das Verhalten von der Mehrheit als nicht normativ beurteilt.
Weiterhin muss das kindliche Verhalten zu Leiden, sozialer Einengung, Beeinträchtigung der Entwicklung oder negativen Auswirkungen für andere führen.
Gemäß der im Kasten genannten Definition von auffälligem Verhalten von Steinhausen (2019), müssen Symptome im Säuglings- und Kleinkindalter zwingend in Bezug zu normativen Entwicklungsverläufen und zur erwartenden Variationsbreite von Verhaltensmerkmalen gesetzt werden. Dabei sind insbesondere die Verhaltens- und Emotionsregulation, die Aufmerksamkeitssteuerung und die Handlungskontrolle, aber auch die gesellschaftlichen und sozialen Normen für die Beurteilung relevant.
1.3 Erscheinungsbild häufiger Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter
1.3.1 Exzessives Schreien
Schreien gehört zum normalen Verhaltensrepertoire von Säuglingen. Es sichert ihr Überleben, indem es Bezugspersonen als auch Fremde motiviert, die Ursache für das Schreien zu finden, zu beheben und dadurch das Schreien zu beenden. Schreien kann viele Ursachen haben: Hunger, Müdigkeit, körperliches Unwohlsein, Schmerzen oder der Wunsch nach Nähe sind die häufigsten. Wenn Säuglinge jedoch deutlich mehr schreien, als dies von den Eltern erwartet wird, sehr unruhig und quengelig sind, kaum in den Schlaf und zur Ruhe gebracht werden können und auf angemessene Beruhigungsversuche nicht ansprechen, spricht man vom exzessiven Schreien. Das exzessive Schreien wird in der Alltagssprache auch »Drei-Monats-Koliken« oder »Kolikenschreien« genannt. Damit wird im Allgemeinen das vermehrte Schreien von Säuglingen, welches meist auf die ersten drei Lebensmonate begrenzt ist, umschrieben. Diese passagere Schreiproblematik tritt meist in physiologischen Reifungs- und Adaptationsphasen auf und geht zudem oftmals mit einer Beeinträchtigung der Schlaf-Wach-Regulation aber auch mit Problemen bei der Nahrungsaufnahme einher. Abzugrenzen ist diese zeitlich begrenzte Schreiproblematik vom persistierenden exzessiven Schreien, welches über den vierten bzw. sechsten Lebensmonat hinaus anhält. Dieses ist häufig mit einer tieferliegenden, erworbenen oder vererbten erhöhten Reaktivität auf Umweltreize bzw. größeren Schwierigkeiten die eigene Erregung bzw. Emotionen zu regulieren. Bedingt durch diese regulativen Schwierigkeiten haben die betroffenen Kinder meist auch in anderen Bereichen (z. B. beim Schlafen, beim Essen oder in Trennungssituationen) Probleme.
Merke
Das Kennzeichen des exzessiven Schreiens ist, das ein anfallsartiges, unstillbares Schreien, das ohne erkennbaren Grund bei einem ansonsten körperlich gesunden Säugling, auftritt. Angemessene Beruhigungsversuche der Eltern haben bei diesen Kindern meist keinen Erfolg.
Zur Definition des exzessiven Schreiens wird die so genannte 3er-Regel von Wessel et al. (1954) herangezogen.
Definition
Ein Kind schreit dann exzessiv, wenn die Schrei- und Unruhephasen:
1. länger als drei Stunden pro Tag,
2. öfter als dreimal pro Woche und
3. länger als drei Wochen anhalten.
Auch wenn die Schreiproblematik im Rahmen physiologischer Reifungs- und Adaptationsphasen in den ersten Lebensmonaten auftritt, geht sie jedoch zumeist mit einer erheblichen Belastung der Eltern einher. Das Schreien selbst, aber auch Schwierigkeiten bei der Schlaf-Wach-Regulation können zu einer abnormen Erregung bzw. chronischen Erschöpfung bei der Hauptbezugsperson führen. Betroffene Kinder haben oftmals nur sehr kurze Tagschlafphasen (meist weniger als 30 Minuten) und ausgeprägte Ein- und Durchschlafprobleme. Dies führt zu einer Kumulation der Schreiphasen in den späten Nachmittags- und Abendstunden durch Übermüdung bzw. Reizüberflutung.
Exzessiv schreiende Säuglinge sprechen vielfach auf angemessene Beruhigungsversuche nicht an. Zudem fallen sie sowohl während ihrer Wachphasen als auch im Schlaf durch eine erhöhte Schreckhaftigkeit auf. Die Kinder sind filterschwach auf den meisten Sinneskanälen, wodurch sie nur schlecht »abschalten« können und sehr geruchs-, geräusch-, berührungs- oder lageempfindlich sind. Da sie auf Stimuli oft mit starker Erregung reagieren, sind exzessiv schreiende Säuglinge schneller überreizt (Papousek & von Hofacker, 1998). Weitere beobachtbare Merkmale des Schreiens sind ein hoher Muskeltonus mit Überstrecken von Kopf und Rumpf, geballten Fäusten, hochroter Hautfarbe oder schriller Schreie.
Organische Ursachen können in der Regel beim exzessiven Schreien nicht gefunden werden. Akhnikh und Kolleginnen (2014) schätzen auf der Basis ihrer Literaturübersicht, dass bei weniger als 5 % aller exzessiv schreienden Säuglinge ein organisches Problem die Verhaltensschwierigkeiten erklären kann. Dies deckt sich mit Erfahrungen in klinischen Alltagssettings. Nur in äußerst seltenen Fällen konnte eine organische Ursache für das vermehrte Schreien bei Säuglingen, welche in einer Spezialambulanz für Säuglinge und Kleinkinder behandelt wurden, gefunden werden (Bolten, Glanzmann, & Di Gallo, 2020).
1.3.2 Schlafstörungen und Probleme mit der Schlafregulation
Neugeborene Kinder haben noch keinen klaren Tag-Nacht-Rhythmus. Dieser bildet sich im Verlauf der frühen Kindheit in Interaktion mit der Umwelt langsam aus (Yates, 2018). Nächtliches Aufwachen, auch weit über das erste Lebensjahr hinaus, ist also nicht zwingend als pathologisch zu werten (Mindell et al., 2016). Ob bei einem Säugling oder Kleinkind eine Schlafstörung vorliegt, hängt primär von der subjektiven Belastung durch das Ausmaß und die Häufigkeit der nächtlichen Schlafunterbrechungen für die Bezugspersonen ab (Pennestri et al., 2018).
In den ersten drei Lebensjahren treten vor allem Insomnien, also Ein- oder Durchschlafprobleme