Название | Nebeltann |
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Автор произведения | Ulrike Wolf |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783740970802 |
Mit den Leuten aus dem Dorf hatte sie nichts weiter zu tun, außer wenn sie einmal in der Woche den im Winter beschwerlichen, im Sommer dagegen romantischen Weg in Angriff nahm, um das Notwendigste einzukaufen.
Nach dem Frühstück zog sie den alten Mantel an, wickelte einen Schal um den Hals, stieg in die Stiefel, zog Handschuhe an und ging nach draußen. Das Thermometer zeigte ein Grad minus. Der Schneeschieber stand schon an der Hauswand bereit, es gab oft bereits im Oktober Schnee. Dann schob sie einen Katzensteig zum Schuppen, in dem das Feuerholz lagerte, einen zur Mülltonne und einen zum Briefkasten. Mehr musste nicht sein und mehr schaffte sie auch nicht. Sie nahm auch gleich einen Korb voll Holz mit hinein und machte im Küchenofen ein Feuer.
Im Altenheim „Letzte Ruh“ saß Irmtraud Teschendorf, eine sehr gepflegte vierundachtzigjährige Dame mit weißem Haar, vor dem Fenster und sah hinaus in den wunderschönen parkähnlichen Garten. Es war früher Nachmittag und sie fühlte sich etwas unruhig und einsam. Also zog sie den Mantel über das dunkelblaue Kleid, das sie am liebsten trug, schlüpfte in die Stiefel und klopfte am Nebenzimmer bei Herrn Ambrosius, um ihn zu einem Spaziergang zu überreden. Als auf ihr Klopfen niemand reagierte, öffnete sie vorsichtig die Tür. Herr Ambrosius saß in seinem Sessel, ein Buch auf dem Schoß, und sah sie mit seltsam leerem Blick an.
„Herr Ambrosius, geht es Ihnen gut?“, fragte Irmtraud. Als keine Antwort kam, ging sie näher an ihn heran und berührte ihn am Arm. Ihre Vorahnung bestätigte sich. Mein Gott, er war ja schon ganz kalt! Sie öffnete das Fenster, dann ging sie, um eine Schwester zu holen. Ihren Spaziergang unternahm sie allein, vom Tod ließ sie sich davon nicht abbringen. Jeden Monat starb doch hier jemand! Aber wieder einmal wurde ihr die Endlichkeit auch ihres eigenen Lebens bewusst. Und zum vielleicht tausendsten Mal dachte sie, dass sie endlich mit Herrmann reden musste…
*
„Bitte, nimm ihn! Ich kann ihn nicht behalten. Du musst mir helfen. Wenn der Alte kommt und ihn sieht, nimmt er ihn mir weg!“
„Was redest du denn da? Ich kann doch nicht dein Kind nehmen, wie stellst du dir das vor? Was soll ich denn mit ihm machen? Er stirbt mir doch unter den Händen weg, so wie er aussieht!“ Der Blick des Mädchens wanderte zu ihrer Leibesmitte.
„Mach mit ihm, was du willst, aber um Himmels Willen hilf mir! Du wirst doch selbst bald Mutter!“
Noch nie hatte Irmtraud jemanden gesehen, der so verzweifelt war. Aber sie konnte doch nicht einfach das Kind nehmen, nach Hause gehen und sagen: Da bin ich wieder und ich hab noch jemanden mitgebracht. Angstvoll blickte die junge Frau zu ihr auf.
„Wen meinst du mit dem 'Alten'?”, fragte Irmtraud das Mädchen.
„Den Reinfichtnerbauern vom Tannenhof, bei dem ich in Diensten bin.“
„Aber er wird sehen, dass du das Kind zur Welt gebracht hast und wird wissen wollen, wo es ist.“
„Ich weiß, aber ich werde sagen, dass es tot zur Welt kam. Dafür brauche ich noch einmal deine Hilfe.“ Der Säugling gab ein leises Wimmern von sich. Irmtraud hatte sich schon entschieden. Sie zog ihren Unterrock aus und wickelte den Jungen darin ein. Er hatte die Augen geöffnet und sah sie an, als würde er direkt in ihr Inneres sehen.
Wahrscheinlich stirbt er mir unterwegs sowieso, dachte sie.
Kurz darauf verabschiedete sie sich von dem Mädchen. Keine Minute zu früh, denn kaum war sie gegangen, kam der Reinfichtner den Weg hoch.
*
Irmtraud saß auf einer Bank im Garten. Über 62 Jahre war das alles her, aber sie konnte nie mit jemandem darüber reden. Zwar hatte das Mädchen ihr den Jungen damals förmlich aufgedrängt, aber trotzdem meldete sich das schlechte Gewissen immer wieder. Zumal auch sie von den Geschichten gehört hatte, die damals oben im „Tannenhof“ vor sich gehen sollten. Aber ob da was Wahres dran war? Schon längst hätte sie reden müssen oder versuchen müssen, das Mädchen zu finden. Bereits 1949 war sie mit ihrem Mann und den zwei Kindern zu den Schwiegereltern nach Berchtesgaden gezogen, das schon fast an der österreichischen Grenze lag. Immer mit der Angst, dass sie irgendwann zur Rechenschaft gezogen werden würde. Aber das Mädchen hatte sie doch angefleht, das Kind zu nehmen, was hätte sie denn tun sollen? Mit diesem Argument hatte sie sich immer wieder selbst beruhigt. Trotzdem war im Hinterkopf immer ein Zweifel geblieben und die leise Angst, dass eines Tages das Mädchen vor der Tür stehen und ihren Sohn verlangen würde. Ihren Sohn, der entgegen allen Erwartungen überlebt hatte…
Zilli verzehrte einsam ihr Mittagessen, einen Eintopf, den sie schon vorgestern gemacht hatte und der inzwischen gut durchgezogen war. Danach ging sie nach draußen, um die fünf Hasen, vier Hühner und den Hahn zu versorgen. Das war alles, was noch an Tieren da war. Früher, als hier noch viele Leute lebten, gab es etwa fünf Milchkühe, ein paar Schweine sowie Enten, Gänse, Karnickel und Hühner. Fünfzehn Hektar Feld und Wiesen waren zu bewirtschaften und nie kam man zur Ruhe, weil die Arbeit immer zu viel und zu schwer war. Besonders wenn man fast noch ein Kind war. Aber das war vorbei. In Gedanken steckte sie den Hasen etwas Heu in den Stall und den Hühnern streute sie Körner und Haferflocken hin. Erneut schob sie den Katzensteig frei, denn seit dem Frühstück waren schon wieder ein paar Zentimeter Schnee gefallen.
Dann buk sie einen einfachen Kuchen für morgen. Wilhelm mochte ihre Kuchen. Die alte Katze strich ihr um die Beine, als sie den Teig zusammenrührte. Zilli füllte ihr etwas Milch in die Schüssel, die die Katze gierig in sich hinein trank. Dann stolzierte sie nach draußen. Ihr Junges lag in der Kiste und schlief. Während der Kuchen im Ofen buk, saß Zilli auf der Eckbank und las Zeitung. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie sah in die Wurfkiste und dachte bei sich: Wenn ich doch wenigstens EIN Kind hätte…
*
Schreie, Schüsse und überall lagen tote und verletzte Menschen. Pferdefuhrwerke waren umgefallen, tote Tiere lagen zwischen den Menschen. Und die Panzer rollten über alles hinweg, ohne Rücksicht.
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Zilli fuhr hoch. Sie war über ihrer Zeitung eingenickt und hatte wieder mal von der Flucht geträumt. Es war fast das Schlimmste, was ihr jemals passiert war, noch schlimmer war es ihr nur ergangen, als sie auf den Hof gekommen war. Jetzt nicht daran denken, sie konnte es immer noch nicht ertragen. Der Kuchen war fertig gebacken, ein köstlicher Duft zog durch die Küche. Das Rezept stammte noch aus ihrer masurischen Heimat, sie hatte es nicht vergessen, so wie sie viele Sachen einfach nicht vergessen konnte. Die Eltern, der kleine Bruder, die Großeltern, alle tot. Erfroren, verhungert, von der vorrückenden Roten Armee niedergemetzelt. Die Bilder stürzten auf Zilli ein und sie konnte sich nicht dagegen wehren. Weinend saß sie am Tisch und trauerte um alle, die ihr jemals etwas bedeutet hatten. Keiner war mehr übrig und alles Leid hatte sie tief in ihrem Innern vergraben, nur manchmal brach es an die Oberfläche und ließ sie verzweifeln. Resolut stand sie auf, wischte sich mit einem Zipfel ihrer Schürze über die Augen und sagte laut zu sich selber:
„Schluss mit der Heulerei, davon wird es auch nicht besser.“
Herrmann und Rudolf Teschendorf waren Zwillinge, obwohl sie äußerlich unterschiedlicher nicht hätten sein können. Rudolf, der Erstgeborene, war von robuster Natur. Als Kind war er nie krank gewesen, hatte keine Allergien und das Essen schmeckte ihm immer. Sein Bruder Herrmann hingegen war bei seiner Geburt schon so schwächlich gewesen, dass alle gedacht hatten, er würde es nicht schaffen. Körperlich war er seinem Bruder weit unterlegen und bis er in die Schule gekommen war, was aufgrund seiner Zartheit erst ein Jahr nach Rudolf der Fall gewesen war, hatte er ständig mit Erkältungen, Mittelohrentzündungen und Magen-Darm-Problemen zu kämpfen gehabt. Seine Entwicklung war etwas verzögert und er brauchte eine Brille,