Название | Lux |
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Автор произведения | Olivia Kuderewski |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863912994 |
Und während man so fährt, stundenlang, tagelang, wochenlang, geht jeden Morgen die Sonne auf, erreicht ihren Zenit und geht abends wieder unter, und dazwischen – mal schwarz wie ein geschlossener Vorhang, mal so dicht gesprenkelt, dass die Sterne den dunklen Hintergrund des Universums überbieten – macht die Nacht immer wieder alles zunichte. Weil man es nicht schafft, die Sonne einzuholen, auch wenn man ihr ununterbrochen hinterherjagt.
New York
1
Lux greift nach dem Knöchel der Statue. Das Metall ist kühl und massiv, trotzdem sieht es fast flüssig aus in seinem Nachtlila, als könnte man den steifen Mantel doch noch aufschlagen und ihm die Stiefel ausziehen. Dieses Lila, denkt Lux beim Hochsehen, wieso wird es immer Lila, wenn sich die künstlichen Lichter kreuzen, das ist kein physikalischer, das ist ein magischer Effekt.
Sie fühlt die metallenen Schnürsenkel, die Stiefelnähte, die scharfe Kante zwischen Schuhkappe und Sohle, eine dicke Sohle, ein fester Schuh. Es ist ein Soldatenstiefel, unmenschlich groß, der Schnürschuh eines Militärpriesters, der auf einem matschigen Schlachtfeld steht, ein keltisches Kreuz im Rücken. Und sie streicht über diesen Stiefel, fasst an, betastet, was sie immer nur aus der Ferne gesehen hat, überlegt, ob sie einen Kuss auf das Metall drücken soll, stockt.
Du bist ja nicht seinetwegen hier.
Lux drückt noch einmal fest zu, als wollte sie ihm mit einem Ruck das Bein wegziehen, ihn aus dem Gleichgewicht bringen und von diesem Sockel herunterholen, auf dem er seit 1937 steht, die überdimensionierten Hände um die Bibel gekrampft, den Blick verärgert in die Zukunft gerichtet. Ein religiöser Glatzkopf mit schlechter Laune. Als wüsste er, dass die Millionen Touristen nicht seinetwegen kommen.
Dass auch du nicht seinetwegen kommst, dass er nur ein langweiliger Klotz zwischen richtigen Sensationen ist. Ein Priester aus Metall hat gegen halb nackte Models einfach keine Chance. Seine Stiefel glänzen nicht von Pilgerberührungen, sondern nur, weil die Stadt ihm jede Nacht die Stiefel schrubbt, du weißt das, du hast gesehen, wie er ihm jede Nacht die Stiefel schrubbt, der letzte echte shoe shine boy von New York.
Wenigstens flattern Father Duffys Mantelschöße ewig im Durchzug der Hochhauskorridore, auch dann noch, wenn die schönen Gesichter um ihn herum verrotten. Und auch, wenn sie in der leichten Brise dieser New Yorker Frühlingsnacht ein wenig zu stark flattern, auch, wenn sie gerade eigentlich in die völlig falsche Richtung wehen, egal. Sie tun es ewig und immer, auch jetzt, wo gerade niemand außer Lux zusieht, es ist zu tief in der Nacht.
Ihre Beine zittern, wenn sie die Knie nicht durchdrückt. Sie muss aufpassen, dass das Gewicht ihres Rucksacks sie nicht wie einen Käfer auf den Rücken wirft, neunzehn Kilo sind ein Drittel ihres Körpergewichts. Es zieht von den Fersen, die sich anfühlen, als liefe sie auf Knochen, bis zum steifen Jetlag-Nacken. Ihre klebrige Hand tastet nach den Verschlüssen des Rucksacks, klickt sie auf. Lux blinzelt die rote Treppe hoch.
Das letzte Stück Weg, nur noch ein paar Höhenmeter, die du überwinden musst.
Zum obersten Absatz sind es dreißig Stufen, die hat sie schon mehrmals gezählt. Lux lässt den Rucksack von den Schultern rutschen, er landet dumpf, und sie stolpert los, geradeaus, nach oben, beim rechten Fuß denkt sie mantrisch: Times, beim linken: Square, fünfzehnmal links, fünfzehnmal rechts, nicht, dass du je vergessen könntest, wie dieser Platz heißt, nicht, dass du je vergessen könntest, wo du bist, wo du dich fallen lässt, auf die Knie, die Knie schlagen auf dem obersten Absatz auf, die Arme zittern, es ist kein Saft mehr drin.
Sie kann den scharfen Schweiß in ihren Achseln riechen. Inhaliert Abgase und hört zu. Das ewige Nachtrauschen breitet sich um sie aus wie eine Samtdecke, auf der alle anderen Geräusche sanft aufprallen, sich entrollen, und sie muss nicht lange warten, da hört Lux sie schon, aus der Ferne, aber schneidend, triumphierend, ja heilig hallt sie durch die Hochhausschluchten: Die erste Krankenwagensirene. Schon in den Videos hat sie dieses Geräusch am meisten gemocht.
Lux schließt die Augen.
In ihrer Jogginghose ertastet sie die Camels und das Feuer. Sie streckt den Rücken, zieht den Nacken lang, schiebt die Ärmel ihres Pullis hoch, und so, ausgerüstet für ein Spektakel, bleibt sie sitzen und zählt gegen das ungeduldige Klopfen im Brustkorb bis zehn. Dann macht sie die Augen auf.
Das goldene M. Es strahlt von links in ihr Sichtfeld.
Du bist zu Hause, nein, du bist in Amerika, endlich, du bist da.
Das Neon der Schilder schießt in Lux wie Tinte in Wasser. Ihre Augen weiten sich von der Szenerie vor ihr. Scharf, grell und schön, sie hat die Fotos vom Platz seit Monaten vermieden, seit sie abgetaucht und immer blasser geworden ist. Sie steckt sich die Camel an, nimmt einen so tiefen Zug, dass sie husten muss, und fährt die Konturen der Blockbuchstaben auf den Bildschirmen gierig mit dem Blick ab. Sie starrt in reine, stechende Farben, darüber der Himmel, schwarz und unerkennbar, und ihr wird schwindlig vom Nachrichtenzipper, sie heftet sich an einen Buchstaben, folgt ihm, bis er digital verschwindet, dann der nächste, von vorne, so lange, bis die Muskeln hinter den Augen wehtun. Die Schärfe der Bildschirme. Lux frisst das Neon, verschlingt es, sie wird davon nicht satt. Körper und Gesichter, Klamotten und Masken und das Drama der Spielfilme, die sie alle kennt, auf hauswandgroßen LCDs, Schauspieler und Models, godzillagroß, aber zahm, mit verzogenen Gliedmaßen durch die Flucht der Straße. Und was ihr hier schon immer am besten gefallen hat: Das ganze Drama spielt sich ohne Ton ab. Die Videos laufen lautlos zum Rauschen der Stadt, das nur von gelben Taxis und vom Durchzug verursacht wird.
Du bist ein winziger Punkt zwischen rechtwinkligen Steintürmen, im tiefsten, archäologischen Tal Amerikas, im Canyon von New York liegst du, so tief unten im Neonparadies, dass kein einziger Stern zu sehen ist. Du bist im Herzen von Amerika.
Du bist im heiligen Herzen von Amerika, denkt sie, ihr eigenes beruhigt sich.
Und dann wird sie durchlässig. Sie verwandelt sich in einen Teil dieser Stadt, in ein paar wenigen Minuten verformt sie sich wie im Märchen von Lux zu Amerika.
Du bist im Herzen von Amerika, denkt sie wieder und nickt, ihr ganzer Körper nickt, ein wenig Wasser sammelt sich unter den Lidern, Lux muss für eine Sekunde die brennenden Augen schließen.
Plötzlich eine Hand an ihrer Schulter. Sie schreckt hoch. Sieht sich um, fast panisch, weiß aber genau, wo sie ist. Die erloschene Zigarette liegt auf dem Boden, ihr Mund ausgetrocknet und sauer, der Rucksack immer noch am Fuß der Treppe. Die Uhr im Turm sagt, es wäre schon nach halb fünf. Jetzt erst sieht sie hoch in das Gesicht desjenigen, der sie aufgeweckt hat, und erstarrt, obwohl sie ja wusste, dass er kommt. Er ist spät dran, denkt sie.
»Muss hier wischen«, sagt er in sperrigem Amerikanisch und zeigt auf den dampfenden Eimer mit Spülwasser neben sich, eine völlig unnötige Geste.
Sie hätte nicht gedacht, dass er so jung ist. Im Livestream der Times-Square-Webcam sah es so langsam aus, sein Wischen. Es sah aus, als ginge es ihm nicht darum, eine Arbeit zu erledigen, sondern als wäre er mit diesem Putzeimer zur richtigen Zeit am richtigen Ort, jede Nacht aufs Neue, etwas, das Lux beneidet.
»Na los.« Mit einem Nicken in Richtung Neon sagt er ihr, dass sie sich verpissen soll, aber Lux kann den Blick nicht von ihm nehmen. Sie hat das Gefühl, in einen Film gefallen zu sein, sich selbst auf der Treppe zu sehen, durch die Webcam.
Bist du in New York oder zu Hause?
Sie fasst sich um die bloßen Fußknöchel und drückt zu, um zu prüfen, wie real das gerade ist. Die Statue, der Typ, die Treppe. Alles echt.
»Wie heißt du?«, fragt sie ihn.
Ihre Stimme bricht, vom Schlaf oder vor Aufregung. Er runzelt die Stirn. Seine Augenbrauen ziehen sich über dem müden Blick zusammen. Sein Overall und die Cap sind genauso rot wie die Treppe, und er hat sich schlecht rasiert, ein paar übersehene schwarze Stoppeln auf den Wangen. Er schüttelt den Kopf. »Hau ab und lass mich meine Arbeit machen.«
Er greift