Verschleppt. Christina Wahldén

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Название Verschleppt
Автор произведения Christina Wahldén
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711448656



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ist nicht leicht zu durchschauen. Viel von dem, was man sagt, lässt er mit einem spöttelnden Grinsen von sich abprallen. Hedvig glaubt verstanden zu haben, dass seine gute Laune eine Art Überlebensstrategie ist, eine Attitüde, hinter der er sich verstecken kann. Wer er wirklich ist, hat sie noch nicht herausgefunden. Sie weiß nur, dass er Discomusik liebt. Ein unglaublich kindischer Typ.

      Wenn Rafael an Hedvig denkt, sieht er eine sehr kleine Frau vor sich. Clever und impulsiv. Unglamourös, kein bisschen eitel. Die anderen Kollegen behaupten, sie sei nicht immer so gewesen. Sie habe sich verändert. Manchmal scheint es, als würde sie gegen die ganze Welt kämpfen. Sie trainiert hart, hat eine ungewöhnlich gute physische Kondition. Mindestens so gut wie er selbst. Ist wohl viel geklettert. Oft handelt sie zuerst und denkt dann. Aber sie ist ohne Zweifel intelligent. Er hat sich wie gesagt dazu entschlossen, einen wohlwollenden Eindruck von ihr zu haben. Sie sind hier oben aufeinander angewiesen. Und äußerer Druck vereint ja bekanntlich.

      Sie fahren schweigend weiter. Der Regen prasselt gegen die Fenster, die Scheibenwischer bewegen sich in der Dunkelheit monoton hin und her. Nasses Laub, leuchtende Autoscheinwerfer und zum dritten Mal Am I a bad boy, maybe? Am I a sad boy, let’s see. Oder vielleicht zum vierten Mal.

      Nach ein paar Stunden hört der Regen auf. Sie halten an einer Tankstelle, die auch als Bäckerei, Imbissbude, Videothek und Postamt fungiert. Es ist zwei Uhr nachts. Der Kaffee schmeckt nach Zyanid. Er trinkt zwei Tassen. Sie kippt ihren in ein Gebüsch neben der Einfahrt zur Autowaschanlage. Das grelle Licht in der Tankstelle bildet einen scharfen Kontrast zur Nachtschwärze außerhalb.

      Rafael joggt zwischen den Benzinpumpen hin und her. Wie ein großer, nasser Seehund zwängt er sich prustend durch die Wagentür. Sie beißt die Zähne zusammen, sagt nicht, dass sie friert. Trotz Daunenjacke, Wollmütze und Handschuhen. Wie dumm, dass sie die Wollsocken ganz unten in die Reisetasche gepackt hat.

      Sie sieht wirklich zu lächerlich aus in all diesen Kleidern, denkt Rafael. Und ihre Verärgerung lässt sie nur noch lächerlicher erscheinen. Warum trägt sie diese alberne Mütze? Was soll das geben, wenn’s erst richtig Winter wird?

      Sie fahren weiter. Sie sitzt am Steuer.

      »Sollen wir Elche zählen?«, fragt Rafael.

      Hedvig starrt in die Dunkelheit. Nach siebzig Kilometern hat sie noch keinen einzigen entdeckt. Sie haben sich wahrscheinlich schon lange schlafen gelegt. Also unterhalten sie und Rafael sich zur Abwechslung eine Weile.

      »Was haben sie nur zu verbergen?«, wundert sich Hedvig.

      Er schüttelt den Kopf und fährt sich durch das dunkle, kräftige Haar.

      »Glaubst du an Verschwörungstheorien?«, fragt er.

      Sie starrt auf die weißen Mittelstreifen, die ihr entgegenschießen.

      »Nein.«

      »Gut, dann sind wir schon zwei. Wir halten uns zunächst zurück und beobachten. Lassen sie glauben, dass wir nicht sehr gefährlich sind. Versuchen, die Strukturen zu erkennen. Dann können wir direkt zum Angriff übergehen.«

      Sie fahren wieder eine Weile schweigend.

      »Aber es ist doch trotzdem seltsam«, sagt sie und gähnt.

      Er atmet ganz kurz ein. Es ist, als würde selbst die Sprache spärlicher, je weiter sie nach Norden kommen.

      »Ja.«

      Es ist früher Morgen, als sie bei Gunnar Rantatalo, dem Mann, bei dem sie sich eingemietet haben, auf dem Hof vorfahren. Sie sind von der Durchfahrtsstraße abgebogen und auf einem schmalen Schotterweg gelandet, der am väterlichen Gutshof von Gunnar Rantatalo endet. Rundum stehen gerade, stille Bäume.

      Der Stall ist das erste Gebäude, an dem sie vorbeikommen, aus der Ferne hören sie das Muhen der Kühe, als sie die Autotüren zuschlagen. Unter einem Blechdach stehen ein Traktor und einige andere Maschinen, deren Bezeichnung Hedvig nicht kennt. Hinter dem Wohnhaus, das sich direkt vor ihnen befindet, liegen die Weiden verlassen da. Um den Stall herum springt eine weiße Katze mit einem entzündeten roten Auge. Weiter hinten im Schatten sitzen weitere scheue und struppige Exemplare.

      Zuerst klopfen sie an die Haustür, die nicht verschlossen scheint; Rafael drückt sie auf und ruft ein vorsichtiges »Hallo?« in den Flur hinein.

      Keine Antwort.

      Sie gehen zurück zum Stall. Die Katzen stieben wie verschreckte Kanonenkugeln auseinander und verschwinden in einer zugewachsenen Laube, als die zwei sich nähern. Im Stall brennt Licht. Die Kühe wühlen im Futter und starren sie mit mahlenden Kiefern glotzäugig an. Sie scheinen gerade gefüttert worden zu sein.

      »Hallo?«

      Noch immer keine Antwort. Aber von der Rückseite des Stalls hören sie ein mürrisches Gemurmel. Rafael steckt den Kopf hinaus. Draußen, mitten auf dem Misthaufen, steht ein krummer, magerer Mann mit Händen groß wie Bratpfannen und scheint mit seinen kräftigen Händen etwas abzumessen.

      »Fünfeinhalb Meter, verdammt ...«

      »Entschuldigung.«

      Der Mann zuckt zusammen und starrt sie an. Dann strömen die Worte aus ihm heraus, als habe man einen Eispfropfen aus einem Fluss gezogen:

      »Wenn nicht diese verdammte, blöde EU wäre, würde ich gut zurechtkommen. Aber nein, eine Dungabdeckung muss absolut sein, ohne Dungabdeckung geht es nicht, versuch das mal, diesen Froschfressern zu erklären, dass wir hier fünfhundert Jahre, ja sogar tausend Jahre, glücklich ohne Dungabdeckung gelebt haben, zum Teufel. Und dann kommen die mit ihren verdammten arroganten Forderungen. Sonst kriegen wir keine Unterstützung. Pfui Teufel«, sagt er wütend und mit Nachdruck.

      Der Mann spuckt eine Ladung dunkelbraunen Kautabak vor Rafaels ordentlich geputzte Schuhe.

      »Wir suchen Gunnar. Wir bräuchten nur nach Gunnar Rantatalo zu fragen, hat er am Telefon gesagt.«

      Der Alte schiebt sich die Mütze in den Nacken und blinzelt sie an. »Ja, aber zum Teufel«, sagt er, beinahe verwundert, »Gunnar Rantatalo bin doch ich.«

      Er betrachtet sie von oben bis unten. Sie weiß, was er denkt. Der Alte sagt nichts, aber besinnt sich und streckt eine schwielige Hand aus. Er reicht sie Rafael.

      »Hallo, ich heiße Rafael Flores Alba.«

      »Was sagen Sie?« Der Alte bleibt verwundert stehen.

      »Das ist Spanisch, könnte man sagen.«

      »Aha, aha. Ach so.«

      »Ich habe wegen des Hauses angerufen.«

      »Ja, ja, natürlich, der Schlüssel hängt drinnen neben der Tür. Können Sie ihn selbst holen?«

      Hedvig reicht ihm die Hand, und er nimmt sie zögernd. Er weiß schließlich, wo sie arbeitet. Würde schlecht aussehen, wenn er sie nicht grüßte.

      »Hedvig Ek«, sagt sie.

      Er nickt schweigend, zieht Luft zwischen den Zähnen ein und sagt dann:

      »Ja. Ich kann nicht mit zum Haus gehen, sehen Sie. Ich muss mich um diese verdammte Betonabdeckung kümmern, bevor das Jahr zu Ende ist, und wenn es anfängt zu schneien, kann man sie nicht mehr gießen. Es ist zu blöd. Ich habe oben die Heizung angemacht, aber es zieht womöglich leicht. Kommen Sie vorbei, wenn etwas ist. Wie lange bleiben Sie?«

      »Das ist noch unklar. So lange es nötig ist.«

      Gunnar spuckt den restlichen Tabak mit einem kräftigen Schnauben aus und wischt sich den Mund am Ärmel seines karierten Flanellhemdes ab.

      »Wenn Sie einen guten Rat hören wollen, dann können Sie genauso gut gleich wieder umkehren und nach Hause zurückfahren. Hier gibt es nichts zu ermitteln. Nicht das kleinste bisschen. Gäbe es etwas, hätten sich unsere Jungs hier schon darum gekümmert.«

      Rafael nickt.

      Sie gehen hinauf zum Wohnhaus und finden ein Schlüsselbund, das mit Gunnars Beschreibung übereinstimmt.