Der Liebesentzug. Pernille Rygg

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Название Der Liebesentzug
Автор произведения Pernille Rygg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711452561



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genieße die schlechte Luft und den Hauch von Mundgeruch. Sie befriedigen mich, die Resignation und die garantiert kurzlebige Erschöpfung. Sie geben mir die Möglichkeit zu empfinden wie die anderen. Diese Resignation, diese Erschöpfung sind befriedigend, denn sie gehören uns allen, sind gewissermaßen von der Vollversammlung beschlossen worden; sie sind unkompliziert, weil ihre Ursachen bekannt sind und kein Erstaunen und keine Überlegungen verursachen. Deshalb habe ich sie fast immer schon abgeschüttelt, wenn ich nach Hause komme. Sie gehören ganz selbstverständlich dazu. Sie erklären sich selbst und beweisen meine Zugehörigkeit zum Kollektiv des Lehrkörpers.

      Mit meinen Studienfächern bin ich überqualifiziert, und das kommt selten vor, deshalb ist es für mich kein Problem, genug Stunden zu bekommen, um Miete und Studiendarlehen zu bezahlen. Es ist eine Befreiung, mein Fach nicht anwenden zu müssen. Ich sehe es als Befreiung an, trotz der heruntergekommenen Schulzimmer, der Disziplinprobleme – und obwohl ich mich den Kindern gegenüber seltsam fremd fühle.

      Wenn ich will, kann ich es empörend finden, dass der Umgang mit kleinen Kindern mir eine solche Ruhe bringt. Es kann durchaus etwas Jämmerliches darin liegen. Aber ich habe eine solche Toleranz für Jämmerlichkeit entwickelt, dass sie nicht zu den Dingen gehört, die mich sonderlich aufregen.

      Behutsam stelle ich meine beiden Töpfe auf den Herd; der eine enthält Reis, der andere Gemüse in Tomatensoße. Es duftet wunderbar, das Haus ist warm und sauber, und der Hund schläft im Wohnzimmer. Ehe Ragne kommt, kann ich mich auf die Stunden morgen vorbereiten; ich lege einige dünne Hefte vor mir auf den Tisch, Mathematik für die dritte Klasse, Norwegisch für die vierte.

      Ich genieße mein Dasein in dieser länglichen, gelb angestrichenen und überaus durchschnittlichen Grundschule, ich gleite zufrieden in die vorgeschriebene Pädagogik hinein, die hier praktiziert wird, ich akzeptiere sie bedingungslos und fast vollständig, obwohl ich sie nicht kenne, sondern Zugang zu ihr finde, in Form von guten Ratschlägen meiner Kollegen und vor allem durch die überaus konkreten und erheiternden Bausteine des Pensums. Alles hier ist klar und bunt wie Bauklötzchen, es gibt Kühe und Fische und den Wert der Freundschaft zwischen Lesebuchkindern mit kurzen, bündigen Namen wie Siv und Ali; das alles sind Buntstifte, Buntstifte und Bauklötzchen.

      Natürlich ist das eine Illusion. Zwischen den Bauklötzchen spielen sich Dramen ab, sie treten an die Oberfläche; es gibt plötzlich aufflammende Streitereien, tiefe Unruhe in den Kindergesichtern und auch etwas, das Ähnlichkeit mit Bosheit hat, geplant und raffiniert. Aber alles ist so offensichtlich, es geht um einen Platz in der Herde, um die Verteidigung des Reviers, um Raum zum Atmen, um Bewegung, um Ruhe. Es geht um Arrangements.

      Und deshalb lässt sich die Illusion aufrechterhalten. Sie setzt voraus, dass ich mit den Dramen umgehen, zu passenden Maßnahmen greifen kann. Es besteht die Gewissheit, dass solche Maßnahmen existieren. Zusätzliche Aufmerksamkeit. Grenzenziehen. Lob. Gespräche mit den Eltern. Schulpsychologie.

      Maßnahmen.

      Möglich, akzeptiert. Ungetestet und vermutlich funktionierend. Ich will sie auch nicht hinterfragen. Natürlich sind sie fehlerhaft und können deshalb verändert werden. Das ist auch gut so. Die Veränderbarkeit spricht für den Willen des Systems sich zu verbessern.

      Zumindest verlangt niemand, dass ich das, was wir als grundlegende Ideologie des Systems bezeichnen, kenne oder den Kindern erkläre. Wenn ich das richtig verstanden habe, kommt es überdies nur selten vor, dass die Eltern sich dafür interessieren, es gilt – sollte es überhaupt so weit kommen – als Informationsproblem, das mit Hilfe von ausreichender Information im gemeinsamen Einvernehmen gelöst werden kann. Ich finde das großartig.

      Ich verhalte mich loyal den Bauklötzen gegenüber, den Kollegen, den Kindern und den Eltern. In dieser Loyalität gibt es keine Widersprüche. Wenn wir ausreichend mit Informationen versehen werden, haben wir dasselbe Ziel, das vermutlich – falls es formuliert worden ist – ziemlich vage aussieht, was ich für einen Vorteil halte.

      Ich unterstütze dieses Ziel, unsicher wohl, pädagogisch unvollkommen, aber dennoch ausreichend.

      Und ich genieße es. Ich genieße es, einfach zu deuten, innerhalb von ganz klaren und individuellen Rahmen, ich genieße die klar definierten Voraussetzungen und das unanfechtbare gemeinsame Ziel. Hier wird von mir nichts anderes gefordert als meine Zustimmung, ich brauche nicht nach versteckten Motiven oder Triebkräften zu suchen, so, wie ich das früher getan habe, als Lehrerin und eher persönlich, zusammen mit Silje. Auch bei Therese, der Therapeutin, der Heilerin, habe ich die verborgenen Motive gesucht, die dahinter liegenden Triebkräfte, die ich zu finden glaubte. Die Erregung, die eine solche Suche mit sich bringt, vermisse ich keineswegs. Im Gegenteil. Es ist ein wahrer Segen, davon befreit zu sein.

      Ich akzeptiere die Einschätzungen meiner Kollegen, ihre Ideale und ihren Frust. Ich bin, von meiner Seite aus, dabei. Es gibt kleine fachliche und persönliche Meinungsverschiedenheiten, zu denen ich meistens keine Stellung beziehe, während ich Verständnis für beide Seiten zum Ausdruck bringe. Ich bin eine aufmerksame Zuhörerin, und ich erkenne den guten Willen aller an, die an unseren kleinen Meinungsverschiedenheiten teilnehmen.

      Ich glaube, dass beide Seiten im Streit um das Gewinnerlos mich leiden mögen. Und ich glaube, dass es hier, wie bei den eher fachlich geprägten Diskussionen, im Grunde vor allem um persönliche Gegensätze geht. Um Chemie. Oder vielleicht um Altersunterschiede. Ich glaube zum Beispiel ganz einfach, dass meine Kolleginnen Ellen – die das Geld aus der Lotterie für ein Fest verwenden möchte – und Beate – die davon eine kulturelle Veranstaltung in die Wege leiten will – einander nicht ganz verstehen. Aber das wird sich noch ändern. Wenn wir ihnen nur genug Zeit geben. Und Aufmerksamkeit vielleicht. Über Ellen weiß ich, dass ihr Sohn sehr oft krank war. Davon wird sie leicht auffahrend und reizbar. Das ist doch verständlich.

      Meine Unterstützung für die Ideale der Grundschule ist nicht geheuchelt. Sie kommt von Herzen, so wie der Wunsch meiner Kolleginnen und Kollegen, den Schulkindern veränderliche und wachstumsfähige menschliche Werte mitzugeben, von Herzen kommt. Ich glaube, es gelingt ihnen so gut, wie man das überhaupt verlangen kann.

      Irgendwann einmal, lange, ehe ich hergekommen bin, war ich zutiefst in Deutungen verliebt, in die Unendlichkeit von Lesarten, zu denen das Fach Geschichte einlädt. Und natürlich hat diese Verliebtheit mich zeitweise zu einer guten Lehrerin gemacht. Ich glaube, ich kann sagen, dass einzelne meiner Stunden gelungene Vorstellungen waren. Es ist vielleicht nur ein Klischee, diese Verwandtschaft zwischen Schauspielerin und Lehrerin, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es ein brauchbares Klischee ist. In beiden Fällen brauchen wir Techniken und Methoden und vor allem das wichtige Element der Begeisterung. Vielleicht auch das des Glaubens. Wenn meine sehr jungen Schülerinnen und Schüler an der Grundschule mich mit dermaßen offenen Gesichtern ansehen, dann liegt das daran, dass sie spüren, wie sehr ich hinter dem Text stehe, den ich ihnen liefere, so, wie wir merken, ob eine Schauspielerin hinter ihrer Rolle steht. Dass mein Glaube, wie das Alter der Schulkinder, sehr gering ist, ist weniger wichtig. Offenbar ist er groß genug.

      Meine Verliebtheit – als ich sie noch hatte – war ansteckend, wie jede Verliebtheit. Es spielt vielleicht eine geringere Rolle, auf wen oder was diese Verliebtheit sich richtet. Auf einen Arsch. Einen Trottel. Eine Dunkelhaarige oder Blonde. Es kommt auf den Puls an, auf Erröten, Atemzüge. Und vielleicht sogar auf die Zuckungen.

      Aus meiner eigenen Schulzeit kann ich mich am besten an eine Vertretungslehrerin erinnern, bei der wir Napoleon durchnahmen. Ich habe keine Ahnung, was sie in ihm sah, oder ob sie irgendeine Meinung über ihn hatte, ich glaube nicht, dass ich wirklich etwas über Napoleon oder über die gewaltigen Umwälzungen in der französischen Gesellschaft und in Europa gelernt habe, die ihn nach oben brachten und die er dann beschleunigte. Aber ich erinnere mich an ihre Vorstellung, an ihre roten Wangen, daran, wie sie mit den Armen fuchtelte und sozusagen vor der Tafel hin und her marschierte, um das Pult herum, zwischen den Tischreihen.

      Ich erinnere mich an ihre Erregung. Die war fast beängstigend. Die roten Flecken an ihrem Hals. Erstaunlich und unerklärlich.

      Puls. Und Napoleon. Die verschneiten Steppen. Ihr Rollkragenpullover, der vielleicht zum Erröten beitrug. Ich glaube schon, dass sie ihn bewundert hat. Es ist möglich,