Название | Die Jahre |
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Автор произведения | Virginia Woolf |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788726643015 |
Aber dann, nach zwei Schritten, wurde die unvertraute Straße wieder die Straße, die sie stets gekannt hatte. Hier war wieder der gepflasterte Durchgang; hier waren die alten Raritätenläden mit ihrem blauen Porzellan und ihren kupfernen Wärmpfannen; und im nächsten Augenblick war sie draußen auf der berühmten gekrümmten Straße mit all ihren Kuppeln und Türmen. Das Sonnenlicht lag in breiten Streifen querüber. Da waren die Mietwagen und die Sonnenplachenund die Buchhandlungen; die alten Herren in schwarzen, sich blähenden Talaren; die jungen Frauen und Mädchen in rosa und blau flatternden Kleidern; und die jungen Männer mit steifen Strohhüten, die Bootkissen unter dem Arm trugen. Aber für einen Augenblick erschienen sie ihr alle überholt, frivol, nichtig. Der gewöhnliche Student in Barett und Talar, mit Büchern unter dem Arm, sah albern aus. Und die gewichtigen alten Herren mit ihren überscharfen Gesichtszügen sahn aus wie Wasserspeier: gemeißelt, mittelalterlich, unwirklich. Sie waren alle wie Leute, die kostümiert waren und Rollen spielten, dachte sie. Nun stand sie vor ihrer eignen Haustür und wartete, daß Hiscock, der Butler, die Füße vom Kaminvorsatz zöge und aus dem Souterrain heraufwatschelte. Warum kannst du nicht reden wie ein menschliches Wesen? dachte sie, als er ihr den Schirm abnahm und seine übliche Bemerkung über das Wetter murmelte.
Langsam, als wäre auch in ihre Füße ein Gewicht geraten, ging sie die Treppe hinauf und sah durch offene Fenster und offene Türen den glatten Rasen, den halb umgefallenen Baum und die verblaßten Kattunüberzüge. Sie ließ sich auf den Bettrand sinken. Es war sehr schwül im Zimmer. Eine Schmeißfliege surrte rundum und rundum; ein Rasenmäher quietschte im Garten unten. Weit weg gurrten Tauben. Gurr nur zu, du ... Gurr nur zu ... Ihre Augen schlossen sich halb. Es war ihr, als säße sie auf der Terrasse eines italienischen Wirtshauses. Und da saß ihr Vater und preßte Enzianblüten auf ein rauhes Blatt Löschpapier. Der See unten plätscherte und glitzerte. Sie faßte Mut und sagte zu ihrem Vater: »Vater ... « Er blickte sehr gütig über die Brille auf. Er hielt die kleine blaue Blume zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich möchte ... « begann sie und glitt von der Balustrade, auf der sie saß, herab. Aber da schlug eine Uhr. Sie stand auf und ging zum Waschtisch. Was würde Nelly davon denken? dachte sie, kippte die schön polierte Messingkanne und tauchte die Hände in das warme Wasser. Noch eine Uhr schlug. Sie ging zum Toilettetisch hinüber. Die Luft, die vom Garten hereinkam, war voll von Gesumm und Gegurr. Holzspäne, dachte sie, als sie nach Kamm und Bürste griff, – er hatte Holzspäne im Haar. Ein Diener ging unten vorbei, einen Turm Blechschüsseln auf dem Kopf. Tauben gurrten. Gurr nur zu, du ... Gurr nur zu ... Aber da ertönte die Dinnerglocke. Und im Nu hatte sie ihr Haar aufgesteckt, ihr Kleid angezogen und zugehakt und lief schon die glattgetretene Treppe hinunter, die Handfläche auf dem Geländer gleiten lassend, wie sie es immer getan, wenn sie als Kind sich beeilt hatte. Und hier waren sie alle.
Ihre Eltern standen in der Halle. Ein hochgewachsener Mann stand bei ihnen. Sein Talar war zurückgeschlagen, und ein letzter Sonnenstrahl beleuchtete sein lebhaftes, gebieterisches Gesicht. Wer war das? Kitty konnte sich nicht erinnern.
»Sapperlott!« rief er aus, bewundernd zu ihr emporblickend.
»Das ist doch Kitty, nicht wahr?« fragte er. Dann ergriff er ihre Hand und drückte sie.
»Wie Sie gewachsen sind!« rief er. Er sah sie an, als betrachtete er nicht sie, sondern seine eigne Vergangenheit.
»Sie erinnern sich nicht an mich?« fügte er hinzu.
»Chingachgook!« rief sie, da ihr eine kindliche Erinnerung kam.
»Aber er ist jetzt Sir Richard Norton«, sagte ihre Mutter und gab ihm einen stolzen kleinen Klaps auf die Schulter; und die beiden Herren wandten sich zum Gehn, denn sie aßen diesen Abend im Refektorium.
Wie fade der Fisch schmeckt, dachte Kitty; die Teller fast kalt; und wie fade das Brot, in kärgliche Scheiben geschnitten! Die Farbigkeit, die Lebenslust der Prestwich Terrace war noch in ihren Augen, in ihren Ohren. Sie gab zu, als sie umhersah, daß das Porzellan und das Silber in der Lodge unvergleichlich besser waren; und die japanischen Teller waren scheußlich gewesen; aber dieses Eßzimmer hier, mit seinen hängenden Schlingpflanzen und seinen riesigen krakelierten Ölgemälden, war so düster. In der Prestwich Terrace war das Zimmer voller Licht gewesen; das Tam-tamtam von Hammerschlägen tönte noch immer in ihren Ohren. Sie blickte hinaus auf die verblassenden Schattierungen von Grün im Garten. Zum tausendsten Mal echote sie ihren Kinderwunsch, der Baum möge sich entweder hinlegen oder aufstehn, statt keins von beiden zu tun. Es regnete nicht wirklich. Aber Böen von Weiße schienen durch den Garten zu wehn, wenn der Wind die dicken Blätter der Lorbeersträucher bewegte.
»Hast du’s nicht bemerkt?« wurde sie plötzlich von ihrer Mutter gefragt.
»Was, Mama?« Sie hatte nicht zugehört.
»Wie sonderbar der Fisch schmeckte.«
»Ich schein’s nicht bemerkt zu haben«, sagte sie, und Mrs. Malone sprach weiter mit dem Butler. Die Teller wurden gewechselt; der nächste Gang wurde aufgetragen. Aber Kitty war nicht hungrig. Sie zerbiß eine der grünen Süßigkeiten, die ihr serviert wurden, und dann war die bescheidene, aus den Überresten des gestrigen Gastmahls für die Damen zusammengestellte Mahlzeit vorbei, und sie folgte ihrer Mutter in den Salon.
Er war zu groß, wenn sie beide allein waren. Aber sie saßen immer hier. Die Bilder schienen hinabzusehn auf die leeren Stühle, und die leeren Stühle schienen hinaufzusehn zu den Bildern. Der alte Herr dort, der das College vor mehr als hundert Jahren regiert hatte, schien bei Tag zu verschwinden, aber er kam wieder, wenn die Lampen angezündet waren. Ein mildes, gediegenes Gesicht, das lächelte; es ähnelte ganz eigenartig dem Gesicht Mr. Malones, der, wäre ein Rahmen um ihn getan worden, ebenfalls über dem Kamin hätte hängen können.
»Es ist nett, einmal in der Zeit einen ruhigen Abend zu haben – einerseits«, sagte Mrs. Malone, »obgleich die Fripps ... « Ihre Stimme verlor sich, während sie die Brille aufsetzte und nach den »Times « griff. Dies war ihr Augenblick der Entspannung und Erholung nach ihrem Tagwerk. Sie unterdrückte ein leises Gähnen, während sie die Spalten der Zeitung überflog.
»Was für ein reizender Mensch er war«, bemerkte sie nebenhin, als sie einen Blick auf die Geburts- und Todesanzeigen geworfen hatte. »Man hätte ihn kaum für einen Amerikaner gehalten.« Kitty rief ihre Gedanken zurück. Sie hatte an die Robsons gedacht. Ihre Mutter sprach von den Fripps.
»Mir hat auch sie gefallen«, sagte sie unüberlegt. »War sie nicht wunderhübsch?«
»Hm-m-m, ein wenig zu auffallend angezogen für meinen Geschmack«, sagte Mrs. Malone trocken. »Und dieser Akzent – « fuhr sie fort und überflog dabei weiter die Zeitung, »ich habe manchmal kaum verstanden, was sie sagte.«
Kitty schwieg. Hierin waren sie verschiedener Meinung; wie in so vielem andern.
Plötzlich sah Mrs. Malone auf: »Ja, genau was ich heute morgen der Köchin sagte.« Sie legte die Zeitung hin.
»Was, Mama?« fragte Kitty.
»Dieser Mann – da im Leitartikel«, sagte Mrs. Malone. Sie tippte mit dem Finger darauf.
»,Mit dem besten Fleisch, Fisch und Geflügel der Welt‘«, las sie vor, »,können wir nichts Rechtes herstellen, weil wir niemand haben, der es zubereiten kann‘, – was ich eben heute morgen der Köchin sagte.« Sie stieß ihren schnellen kleinen Seufzer aus. Grade wenn man Eindruck auf Leute machen wollte, wie auf diese Amerikaner, ging irgend etwas schief. Diesmal war es der Fisch gewesen. Sie kramte in ihrem Arbeitskorb, und Kitty ergriff die Zeitung.
»Es steht im Leitartikel«, sagte Mrs. Malone. Dieser Mann sagte fast immer genau das, was sie selbst dachte, und das