Das Geheimnis der Madame Yin. Nathan Winters

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Название Das Geheimnis der Madame Yin
Автор произведения Nathan Winters
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783939990352



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ihrem Bett, das Kissen mit beiden Armen fest umschlungen. Ihre goldenen Locken schimmerten auf den blütenreinen Laken und ihre sanft geschwungenen Lippen zuckten, als spräche sie im Schlaf. Sie träumte. So lebhaft, dass sie die Bettdecke ans Fußende gestrampelt hatte.

      Celeste deckte sie wieder zu, strich ihr beruhigend über die kühle Stirn und kehrte dann wieder in ihre Kabine zurück.

      Der Umschlag mit Mrs. Roovers Informationen wartete auf sie. Er lag auf dem Sekretär, vor dem sie Platz nahm. Ihre Augen brannten, sie war müde, aber noch nicht müde genug, um sich schlafen zu legen. Also öffnete sie den Umschlag und begann zu lesen, was Mrs. Roover gesammelt hatte.

      Estelle Wiggins. Sechzehn Jahre alt.

      Es gab keine Fotografie, nur eine grobe Beschreibung.

      Blondes Haar, blaugraue Augen. Ein Meter siebenundfünfzig. Erwürgt. Seil oder Tuch. Gefunden am 29. Juli. Themse. Battersea Park.

      Aus einem Zeitungsartikel erfuhr Celeste, dass ihre Eltern sie in ihrem Zimmer gewähnt hatten. Aber irgendwann in der Nacht musste sie sich hinausgeschlichen haben. Es gab keine Spuren eines Einbruchs, nichts, was auf eine Entführung hingedeutet hätte.

      Wohin Estelle gegangen war oder ob sie jemanden hatte treffen wollen, verriet der Text nicht.

      Die Notizen füllten nicht einmal eine Seite und Celeste fragte sich, wo sie ansetzen sollte. Mit Dorothea konnte sie nicht sprechen, wenn nicht einmal ihre Tante den Mut aufgebracht hatte, ihr von Estelles Tod zu erzählen. Hinter ihr hörte sie ein Geräusch, das sie zwang, sich hastig umzudrehen.

      Fast hatte sie das Mädchen erwartet, wie es ihr über die Schulter sah. Aber sie war allein. Vielleicht war nur jemand an ihrer Kabinentür vorbei gegangen. Dennoch, sie wollte kein Risiko eingehen. Sie schob die Papiere hastig in den Umschlag zurück und versteckte ihn zusammen mit den anderen beiden Kuverts im doppelten Boden ihrer Reisetruhe.

      Sie stand auf und ging zum Waschtisch. Um ihre Müdigkeit zu bekämpfen, gab sie Wasser in eine Waschschüssel, tauchte die Hände hinein und wusch sich das Gesicht. Als sie wieder aufsah, blickte sie in den goldumrahmten Spiegel an der Wand. Kleine Tropfen rannen ihre Nase entlang und glänzten auf der feinen Zeichnung ihrer Wangenknochen. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, ging sie zum Bett und setzte sich auf den Rand. Ihr Blick fiel auf eine kleine Fotografie, die auf einer Konsole an der Wand stand. Das Bild steckte in einem Rahmen aus dunklem Holz. Das Papier war rissig und an den Rändern schon etwas verblichen. Eine Erinnerung an zu Hause. Celeste nahm es in den Schoss und betrachtete es.

      Da war ihr Vater, in seinem Lieblingssessel sitzend. Das Haar sauber gescheitelt, der Anzug wie eine Uniform und die künstliche Hand auf seinem Knie. Ihre Mutter stand hinter ihm. Ihr teures Kleid und die noch kostspieligeren Perlen um ihren Hals und an den Ohren konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass sie unglücklich war. Ihr Lächeln war ebenso künstlich wie die Hand ihres Mannes.

      Nur ihr Bruder, der auf seinem Schaukelpferd saß, lachte herzlich und ehrlich. Celeste selbst stand neben ihm, ein pausbackiges Kind im Rüschenkleid, das ihrem erwachsenen Ich nun aus großen Augen entgegensah. Ob Mom und Dad manchmal an mich denken? Ob sie sich Sorgen machen, fragte sie sich im Stillen. Doch die stummen Gesichter gaben ihr keine Antwort.

      Mit einem Seufzer stellte sie die Fotografie zurück und legte sich ins Bett.

      Durch die angelehnte Tür konnte sie Dorothea im Schlaf weinen hören. Wieso hatte das Mädchen nur solch panische Angst, nach Hause zurückzukehren?

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       4. September 1877 London Kurz nach Mitternacht

      Die Straßen in Lambeth lagen still und verlassen da. Der Regen, der seit den Abendstunden über London niederging, hatte die Menschen in die Häuser getrieben. Nur die armen Teufel, die sich keine Unterkunft leisten konnten, kauerten unter tropfenden Vordächern oder in abbruchreifen Ruinen, die weder Türen noch Fenster besaßen. Die Dunkelheit hatte schon vor Stunden einen trüben Tag abgelöst.

      In einer schmalen Gasse, in der sich Abfall stapelte, balgten sich ein paar Ratten um die Kadaver zweier Katzen, denen irgendjemand das Fell abgezogen hatte.

      Im verwahrlosten Hinterhof eines Gerbers bellte ein Hund.

      All das kümmerte Madame Yin nicht, die, wie jeden Tag, den gleichen Weg ging.

      Obwohl sie schon seit über zwanzig Jahren in London lebte, kannte niemand ihren richtigen Namen, und ebenso rätselhaft wie ihr Name war auch ihre Herkunft. Ihre mandelförmigen Augen ließen keinen Zweifel daran, dass sie aus Asien stammte, doch sie sprach ein so gutes Englisch, dass viele vermuteten, sie lebte schon immer hier. Die Jahre auf der Straße, die langen Nächte und vielen Liebhaber hatten Spuren auf ihrem einst zarten Gesicht hinterlassen. Ihre Lippen waren schmal, aber auffallend rot geschminkt. Tiefe Falten zeichneten ihr Gesicht von der Nase bis hinunter zu den Mundwinkeln. Ihre Haut wirkte blass, im Licht der matten Gaslaternen sogar kränklich gelb. Sie humpelte – ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie noch als einfache Straßenhure ihren Lebensunterhalt verdienen musste und ein Freier sie fast totgeprügelt hatte.

      Die Straße war ihr Lehrmeister gewesen. Erwarte nichts und erhoffe nichts, niemand wird dir etwas schenken. Du musst es dir selbst nehmen. Nach diesem Credo lebte sie, und nach diesem Credo handelte sie. Und nun gehörten ihr drei Opiumhöhlen und zwei Bordelle, was ihr ein beträchtliches Einkommen einbrachte, sowie den Respekt der Männer und Frauen, die ihr Geld ebenfalls im Schatten verdienten.

      Ihre Häuser liefen so gut, dass sie sich die edelsten Kleider hätte leisten können, aber darauf verzichtete sie ebenso wie auf einen Leibwächter oder auf eine Kutsche, die sie trocken durch den Regen gebracht hätte. Um ihre Etablissements zu besuchen und nach dem Rechten zu sehen, ging sie, wie früher, zu Fuß. Nur einen Schirm gegen den Regen und einen Stock als Gehhilfe gestattete sie sich als Luxus, denn neben ihrem lahmen Bein bereitete ihr bei nassem Wetter auch ihr Rücken Kummer. Sie bog gerade in die Newcomen Street ein, als der Regen nachließ. Die Luft roch frisch und klar, der Regen hatte seinen Dienst getan und den fauligen Gestank nach Armut und Hoffnungslosigkeit fortgewaschen. Madame Yin blieb einen Moment lang stehen und nahm einen tiefen Atemzug. Sie konnte ihr Zuhause schon am Ende der Straße sehen. Die obere Etage lag im Dunkeln, dort wohnte sie. Aus der unteren Etage, über deren Eingang ein roter Holzdrache hing und wo tiefrote Lichter in den Fenstern brannten, konnte sie leises Flötenspiel und Lachen hören.

      Sie hatte also noch Gäste, wie sie ihre opiumsüchtige Kundschaft gerne nannte. Dabei machte sie keinen Unterschied, ob jemand von hohem Stand war oder tagsüber in den Werften schuftete. Ob Mann, ob Frau, alt oder jung – Hauptsache, sie konnten die drei Schillinge aufbringen, die sie für die Jagd nach dem Drachen bezahlen mussten.

      Aus dem Schatten trat eine Gestalt an sie heran, die einen Strauß Blumen in der Hand hielt. Es war ein Mann mit Mantel und Zylinder.

      „Verzeihen Sie. Madame Yin?“, fragte er mit sanfter Stimme.

      Sie nickte höflich. „Kann ich etwas für Sie tun, mein Freund?“

      Er sagte nichts, sondern reichte ihr lediglich mit gesenktem Kopf die Blumen. Es waren rote Rosen. Madame Yin nahm sie und roch daran. „Das ist aber reizend von Ihnen“, sagte sie und schenkte ihm ein seltenes Lächeln. „Haben Sie vielen Dank. Möchten Sie mich ein Stück begleiten?“

      Er hob den Kopf. Seine Augen funkelten. „Nein, Madame. Das möchte ich nicht.“ Unvermittelt stürzte sich der Mann auf sie.

      Der Blumenstrauß fiel zu Boden. Er zertrat ihn.

      Rosenblätter rissen ab und schwammen den Rinnstein entlang, tanzten und drehten sich auf dem Wasser. Ein Reigen, den auch Madame Yin tanzte. Sie wand sich, kämpfte, wollte fliehen, um Hilfe schreien, aber er hielt sie am Hals gepackt, drückte zu und presste ihr ein Tuch auf Mund und Nase. Sie roch und schmeckte Alkohol. Ihr wurde schwindelig. Ihre Gegenwehr erlahmte. Dann wurde es dunkel.