»Ich bin Dr. Behnisch. Warten Sie bitte dort einen Augenblick. Mir wurde gerade gesagt, daß wir einen neuen Patienten haben. Das könnte Ihr Vater sein.«
Nachdem Jean Pierre Morrell sich in der Eingangshalle niedergelassen hatte, hatten sich Dr. Norden und Dr. Behnisch wieder gefaßt.
»Es ist wirklich eine enorme Ähnlichkeit«, sagte Daniel. »Man weiß ja, daß in den Filmen Doubles eingesetzt werden und solche Ähnlichkeiten verblüffend sind. Aber wenn man selbst damit konfrontiert wird, ist es doch erstaunlich. Gerade vor ein paar Tagen hatten wir mit den Kindern ein Gespräch über Doppelgänger. In Annekas Schule sind zwei Jungen, die sich unglaublich ähnlich und doch nicht miteinander verwandt sind.«
»Wir haben Leon vor Jahren zuletzt gesehen. Da kann selbst eine flüchtige Ähnlichkeit täuschen.«
»Nein, diese ist verblüffend.«
»Und welche Rückschlüsse ziehst du?«
»Das sind nur vage Vermutungen, aber die behalte ich lieber für mich. Sonst lacht ihr mich eines Tages womöglich aus. Aber sollte der junge Herr Morrell sich vielleicht nach der Baronin Ahlen erkundigen, dann sag mir bitte Bescheid.«
»Du meinst, es könnte da eine Verwandtschaft bestehen? Na, wundern würde mich bei dieser Familie gar nichts. So einem sturen, gefühllosen Mann wie diesem Ahlen bin ich vorher noch nie begegnet.«
»Sag das nicht, man vergißt es bloß. Man merkt sich nur die, die bei aller Sturheit auch eine Persönlichkeit sind. Ich weiß nicht, was ihn zu diesem Menschen gemacht hat. Ich mache mir jetzt Gedanken, Daniel.«
»Das scheinen sehr ernste, tiefgründige Gedanken zu sein«, stellte Dieter Behnisch nachdenklich fest.
»Je älter man wird, desto mehr Gedanken macht man sich«, erwiderte Daniel.
»So ist es, mein Freund! Wir betrachten es halt nicht mehr nur vom medizinischen Standpunkt.«
Für Jean Claude Morrell wurde in der Behnisch-Klinik alles getan, was medizinisch und menschlich möglich war, aber ob man ihm wirklich helfen konnte, stand in den Sternen.
*
Jean Pierre war nicht in der Verfassung, einen fröhlichen Ausflug mit Cordula zu machen, wie er es sich vorgenommen hatte, denn sie gefiel ihm ausnehmend gut. Aber sein Vater hatte in seinem Leben bisher eine Ausnahmestellung eingenommen, die Hauptrolle gespielt. Frauen hatte Jean Pierre nur wenige kennengelernt… mal ein paar Flirts, eine Jugendfreundschaft, die aber auch nicht gehalten hatte, dann auch eine Liebe, die er aber mit Gänsefüßchen versah, weil die besagte junge Dame auch ganz konkrete Vorstellungen von ihrer Zukunft hatte. Sie war Cordula ähnlich, wenn auch noch jünger und nicht verheiratet gewesen.
Aber eigentlich beruhte sein Interesse für Cordula auf ganz anderen Vorzeichen, doch momentan dachte er daran nicht mehr. Es war ihm peinlich, ihr erklären zu müssen, daß er sich lieber um seinen kranken Vater kümmern wollte, als mit ihr den Rest des Tages zu verbringen. Aber er wollte es ihr persönlich sagen. Er wollte ihr verständlich machen, daß ihm viel an ihr lag.
Doch es kam anders, als er gedacht und befürchtet hatte. »Ihr Vater ist doch wichtiger als ein gemeinsames Essen«, sagte Cordula sofort, als er ihr zögernd erklärt hatte, was geschehen war. »Aber in der Behnisch-Klinik ist er bestens aufgehoben.«
»Sie kennen die Klinik?« fragte er.
»Gewiß, meine Tochter ist dort geboren, sie ist jetzt vier Jahre. Ich kenne auch die Ärzte, und ich würde gern mit Dr. Behnisch sprechen, daß ganz besondere Fürsorge auf Ihren Vater verwandt wird. Allerdings nur, wenn es Ihnen recht ist.«
»Sie sind sehr, sehr nett«! sagte er leise. »Mein Vater bedeutet mir sehr viel.«
»Das ist gut, dann sind Sie besser dran als Leon von Ahlen«, erwiderte sie. »Sie wissen sicher, daß Sie eine große Ähnlichkeit mit ihm haben.«
»Ja, das weiß ich, aber ich habe dafür keine Erklärung. Ich bin nur oft darauf angesprochen worden, und deshalb, das sage ich ganz offen, wollte ich Sie auch kennenlernen, als ich nach einem einfallsreichen Architekten suchte und hörte, daß Sie mit Leon von Ahlen verheiratet waren. Ich wollte Ihnen das alles heute auch ausführlich erklären, Frau Mohl, aber nun kam der Zusammenbruch meines Vaters dazwischen.«
»Dann machen wir eben keinen Ausflug, sondern fahren gemeinsam zur Behnisch-Klinik, wenn es Ihnen recht ist. Ich spreche dann mit Dr. Behnisch, daß ihrem Vater ganz besondere Fürsorge zuteil wird, weil er einen liebevollen Sohn hat. Einverstanden?«
»Sie sind einmalig«, sagte er voller Wärme.
»Das bin ich bestimmt nicht«, erwiderte sie, »ich habe Ihnen nur einiges voraus, wenn ich das sagen darf. Ich habe vor allem die besten Erfahrungen mit der Behnisch-Klinik gemacht, – in der übrigens auch kürzlich die Baronin von Ahlen verstarb, Leons Mutter. Ihr war nicht mehr zu helfen.«
»Sie haben sie gut gekannt?« fragte Jean Pierre hastig, etwas zu hastig für die hellhörige Cordula, die ja wenigstens etwas an diesem Tag in Erfahrung bringen wollte.
»Nein, ich habe sie überhaupt nicht gekannt. Ich war mit Leon verheiratet, aber nicht an seine Familie gebunden. Und ich habe Ihre Einladung auch nur deshalb angenommen, weil Sie Leon so ähnlich sehen, das sage ich ganz ehrlich. Sonst sind Sie allerdings sehr verschieden von ihm.«
»Und warum interessiert Sie diese Ähnlichkeit? Es gibt doch viele Doubles.«
»Nun, ich dachte, daß Sie vielleicht gemeinsame Vorfahren haben könnten, denn über diese habe ich ja nie etwas erfahren. Leon hat darüber nicht gesprochen. Er ist ausgebrochen aus der Tradition, wie man sagt.«
»Aber es gibt doch noch einen Sohn«, sagte Jean Pierre, und Cordula spürte, wie auch er nachhaken wollte.
»Ja, Hanno, aber er ist sehr traditionsbewußt«, erwiderte sie. »Allerdings wohl auch recht selbständig, was die geschäftlichen Dinge betrifft.« Sie wußte selber nicht zu erklären, warum sie etwas zu Hannos Vorteil sagte.
»Fahren wir jetzt gemeinsam zur Behnisch-Klinik?« fragte sie dann.
»Wenn Sie es wirklich wollen? Ich bin Ihnen sehr dankbar, Cordula. Ich glaube, Sie sind eine Frau, mit der man wirklich gut Freund sein kann.«
»Ganz sicher, aber mehr auch nicht«, erwiderte sie mit fester Stimme.
»Und sicher haben Sie dafür auch ein triftiges Argument.«
»Ist eine Ehe, die ein Fiasko war, etwa keines?« fragte sie ruhig.
Sie fuhren gemeinsam zur Behnisch-Klinik und redeten auf der Fahrt fast nichts, aber als sie dort angekommen waren, sagte Jean Pierre:
»Es ist seltsam, Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Anouk, nicht so sehr äußerlich, aber in Ihren Ansichten.«
»Das ist interessant«, sagte Cordula, »da sieht man doch mal wieder, wie sehr Menschen sich ähneln können! Es scheint gar nichts Besonderes zu sein.«
»Doch, ich finde schon, daß es etwas Besonderes ist, wenn es um außergewöhnliche Menschen geht«, erwiderte Jean Pierre. »Ich glaube wirklich, daß ich Anouk besser verstehen könnte, wenn ich länger mit Ihnen reden dürfte.«
»Aber das dürfen Sie ja«, erwiderte Cordula. »Doch zunächst ist Ihr Vater wichtiger. Ich verstehe eine solche Beziehung. Ich liebe meinen Vater auch sehr.«
Es war für sie ungemein beruhigend, daß er über eine andere Frau mit ihr gesprochen hatte, die ihm doch viel zu bedeuten schien. Er war ihr noch sympathischer geworden, und ihr hätte es leid getan, wenn er ein so großes Interesse an ihr gezeigt hätte, daß sie auf Distanz hätte gehen müssen. So jedoch war zwischen ihnen tatsächlich schon ein freundschaftliches Verhältnis entstanden.
Alles in allem kam es ihr bei längerer Überlegung doch seltsam vor, wie sehr sich ihre Wege kreuzten und daß die Behnisch-Klinik in gewisser Weise zu einem schicksalhaften Ort für sie geworden war.
Die