Название | Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel |
---|---|
Автор произведения | Nadine Erdmann |
Жанр | Языкознание |
Серия | Die Totenbändiger - Die gesamte Staffel |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783958344105 |
Allerdings nicht hier im West End. Hier gab es so viele Magnesiumlaternen, eiserne Zäune und ebensolche Skulpturen und Verzierungen, dass sich kein einziger Geist auch nur in die Nähe wagte. Für den Schutz der Touristen, der Stars und der Schönen und Reichen scheute der Stadtrat keine Kosten und Mühen, damit Theater- und Filmpremieren oder Besuche in Edelrestaurants nicht in einem Fiasko endeten.
Jaz suchte sich eine Bank und verschlang das erste Sandwich so hastig, dass sie kaum schmeckte, was darauf war. Beim zweiten ließ sie sich mehr Zeit und sah hinaus auf den Fluss.
Was zum Teufel sollte sie jetzt machen?
Den ganzen Tag über hatte sie die Frage verdrängt. Zuerst war die Flucht aus der Akademie wichtiger gewesen, dann hatte sie die ersten Pfandleiher abgeklappert, um den Briefbeschwerer zu Geld zu machen. Ohne Erfolg.
Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, dass all ihre tollen Zukunftspläne nicht mehr funktionierten. Jedenfalls nicht so, wie geplant. Sie musste zwar nicht nach Newfield, aber die Polizeiakademie und ein Leben als Spuk waren dafür genauso in weite Ferne gerückt.
Der Sandwichbissen klebte ihr plötzlich ziemlich pappig im Mund und der blöde Kloß in ihrem Hals machte es schwer, ihn herunterzuwürgen. Rasch kippte sie ein paar Schlucke Wasser hinterher und schob dann den Gedanken an das mögliche Platzen ihrer Zukunftspläne entschieden von sich.
Erst mal gab es eine viel dringendere Frage zu klären.
Wo verdammt sollte sie jetzt hin?
Heute die Nacht hier im West End zu verbringen, war kein Problem. Auch die nächsten paar Nächte würde es sicher gehen. Aber auf Dauer war das keine Lösung. Im Moment war das Wetter noch gut und die Nächte nicht zu kalt. Allerdings war London nicht gerade als warmes Sonnenparadies bekannt. Im Gegenteil. Herbst und Winter waren feucht und kalt und kosteten jedes Jahr etliche Obdachlose das Leben.
Sie brauchte eine Unterkunft. Nichts Besonderes. Bloß irgendein kleines Zimmer, das sie sich auch mit anderen teilen konnte. Das wäre vollkommen okay. In der Akademie hatte sie schließlich auch kein eigenes Zimmer gehabt.
Doch Jaz wusste, dass London ein teures Pflaster war. Und als Totenbändigerin in einer Wohngemeinschaft aufgenommen zu werden, war mit Sicherheit noch schwieriger. Mal ganz abgesehen davon, dass sie noch minderjährig war.
Aber bevor sie sich darüber Gedanken machen konnte, musste sie erst mal für Geld sorgen. Ihre mageren Ersparnisse und das bisschen, was sie Ken abgenommen hatte, würden niemals reichen, um sich irgendwo einmieten zu können.
Sie brauchte einen Job. Doch auch das war leichter gesagt als getan, denn wer würde eine minderjährige Totenbändigerin einstellen?
Ächzend wischte Jaz sich über die Augen.
Sie hatte sich Freiheit und Selbstbestimmung gewünscht, aber wenn diese so schwierig und kaum zu bewältigen waren, trat ihr das berühmte Sei vorsichtig, mit dem, was du dir wünschst gerade mächtig in den Hintern.
Sie stützte den Kopf in die Hände und presste die Finger auf die Augen.
Gestern um diese Zeit hatte sie in ihrem Bett gelegen, sich darüber gefreut, dass endlich ihr letztes Schuljahr anbrach, und gleichzeitig darüber gestöhnt, dass sie sich jetzt wieder mit Blaine, Asha und Leroy abgeben musste, denen sie während der Ferien größtenteils aus dem Weg hatte gehen können.
Heute besaß sie nicht mal mehr ein Dach über dem Kopf.
War Weglaufen wirklich so eine gute Idee gewesen?
Vielleicht hätte sie besser genau das machen sollen, was sie Jessica erzählt hatte: Zähneknirschend nach Newfield gehen, dort die Kids unterrichten, parallel ihren Abschluss machen und sobald sie ihn in der Tasche hatte und volljährig war, von der Farm zu verschwinden.
Klang irgendwie nach einem clevereren Plan als die Ungewissheit, die jetzt vor ihr lag.
Aber alleine beim Gedanken an diese Farm schnürte sich ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht mal genau sagen, warum, aber bei der Vorstellung, dort leben zu müssen, schrillte ihr inneres Alarmsystem und dieses Bauchgefühl war das Einzige, worauf sie sich bisher in ihrem Leben wirklich verlassen konnte.
Also egal, wie ätzend die nächsten Tage, Wochen oder gar Monate auch werden mochten, es war richtig gewesen, aus der Akademie abzuhauen.
Punkt.
Und mit den Konsequenzen würde sie schon irgendwie klarkommen.
Selbst den Traum von der Polizeiakademie wollte sie noch nicht ganz aufgeben. Wenn sie Unterkunft und Job hatte, konnte sie sich auch hier in London fürs Homeschooling anmelden. Bibliotheken hatten schließlich jede Menge Schulbücher und öffentliche Computer, die sie zum Lernen benutzen konnte, oder nicht?
Entschieden setzte sie sich wieder auf und strich ihre Haare zurück.
Nicht unterkriegen lassen.
Irgendwie würde sie das alles schon hinbekommen.
Sie spielte am Verschluss ihrer Wasserflasche herum und blickte hinaus auf die Themse. Mittlerweile war es dunkel geworden und vom Wasser zog feuchte Kühle in den kleinen Park. Auch wenn es hier ruhig war und niemand vorbeikam, der ihr unangenehme Fragen stellte, war es vielleicht nicht die beste Idee, die Nacht hier zu verbringen.
Außerdem fühlte sie noch immer einen Teil der Energie in sich, die sie Ken gestohlen hatte. An Schlaf war also ohnehin noch nicht zu denken.
Jaz entsorgte ihren Müll, schwang sich ihren Rucksack über die Schulter und marschierte los.
Bisher kannte sie das West End nur bei Tag.
Zeit herauszufinden, wie es hier in der Nacht aussah.
Kapitel 8
Dienstag, 3. September
Panisches Kreischen riss Jaz aus dem Schlaf. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Im fahlen ersten Morgenlicht wirkte der kleine Hinterhof ganz anders, als in der Dunkelheit der letzten Nacht.
Bis weit nach Mitternacht war sie durch die Straßen des Vergnügungsviertels geschlendert. Erst im Westen, der an Mayfair, Londons reichsten Stadtteil, grenzte. Hier fand man Edelclubs, sündhaft teure Bars und Restaurants sowie Nobelhotels, in denen die Reichen und Schönen aus aller Welt nächtigen und sich vergnügen konnten.
Totenbändiger waren dort nicht gerne gesehen, weshalb Jaz die Straßen bei Tag bisher meistens gemieden hatte. In vielen der Lokale und Hotels hingen Schilder mit Totenbändiger unerwünscht oder Kein Zutritt für Totenbändiger. Die feine Gesellschaft gab sich nicht gerne mit Freaks ab. Nicht, dass Totenbändiger sich den Aufenthalt in solchen Clubs oder Restaurants hätten leisten können. Zumindest nicht, dass Jaz es gewusst hätte. Die externen Schülerinnen und Schülern der Akademie gehörten alle bestenfalls zur Mittelschicht. Doch es gab auch etliche Familien, die froh waren, dass die Akademie kostenlos war und ihre Kinder dort eine warme Mahlzeit am Tag bekamen.
Im Zentrum des West Ends befanden sich die Theater, Kinos und Showpaläste sowie Discos, Clubs und Restaurants, die erschwinglichere Preise für Normalbürger anboten. Im Osten dagegen lagen die Bordelle und kleinere Kinos und Theater, die anrüchigere Filme, Stücke oder Shows zeigten. Hier hatte Jaz den kleinen Hinterhof gefunden, den sich ein Tätowierladen und ein Sexshop teilten. Er war ruhig, von der Straße uneinsehbar und im Gegensatz zu den Hinterhöfen und schmalen Gassen in der Nähe der Bars und Restaurants gab es hier keine Mülltonnen mit übelriechenden Essensresten. Nur einen Berg Pappkartons und Säcke mit Verpackungsmaterial, auf denen es sich halbwegs bequem hatte schlafen lassen.
Bis