Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe. Sigmund Freud

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Название Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe
Автор произведения Sigmund Freud
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9788075836731



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der Homosexuellen angehört.

      So wenig Näheres über das geschlechtliche Verhalten des großen Künstlers und Forschers bekannt ist, so darf man sich doch der Wahrscheinlichkeit anvertrauen, daß die Aussagen seiner Zeitgenossen nicht im gröbsten irregingen. Im Lichte dieser Überlieferungen erscheint er uns also als ein Mann, dessen sexuelle Bedürftigkeit und Aktivität außerordentlich herabgesetzt war, als hätte ein höheres Streben ihn über die gemeine animalische Not der Menschen erhoben. Es mag dahingestellt bleiben, ob er jemals und auf welchem Wege er die direkte sexuelle Befriedigung gesucht oder ob er ihrer gänzlich entraten konnte. Wir haben aber ein Recht, auch bei ihm nach jenen Gefühlsströmungen zu suchen, die andere gebieterisch zur sexuellen Tat drängen, denn wir können kein menschliches Seelenleben glauben, an dessen Aufbau nicht das sexuelle Begehren im weitesten Sinne, die Libido, ihren Anteil hätte, mag dasselbe sich auch weit vom ursprünglichen Ziel entfernt oder von der Ausführung zurückgehalten haben.

      Anderes als Spuren von unverwandelter sexueller Neigung werden wir bei Leonardo nicht erwarten dürfen. Diese weisen aber nach einer Richtung und gestatten, ihn noch den Homosexuellen zuzurechnen. Es wurde von jeher hervorgehoben, daß er nur auffällig schöne Knaben und Jünglinge zu seinen Schülern nahm. Er war gütig und nachsichtig gegen sie, besorgte sie und pflegte sie selbst, wenn sie krank waren, wie eine Mutter ihre Kinder pflegt, wie seine eigene Mutter ihn betreut haben mochte. Da er sie nach ihrer Schönheit und nicht nach ihrem Talent ausgewählt hatte, wurde keiner von ihnen: Cesare da Sesto, G. Boltraffio, Andrea Salaino, Francesco Melzi und andere, ein bedeutender Maler. Meist brachten sie es nicht dazu, ihre Selbständigkeit vom Meister zu erringen, sie verschwanden nach seinem Tode, ohne der Kunstgeschichte eine bestimmtere Physiognomie zu hinterlassen. Die anderen, die sich nach ihrem Schaffen mit Recht seine Schüler nennen durften, wie Luini und Bazzi, genannt Sodoma, hat er wahrscheinlich persönlich nicht gekannt.

      Wir wissen, daß wir der Einwendung zu begegnen haben, das Verhalten Leonardos gegen seine Schüler habe mit geschlechtlichen Motiven überhaupt nichts zu tun und gestatte keinen Schluß auf seine sexuelle Eigenart. Dagegen wollen wir mit aller Vorsicht geltend machen, daß unsere Auffassung einige sonderbare Züge im Benehmen des Meisters aufklärt, die sonst rätselhaft bleiben müßten. Leonardo führte ein Tagebuch; er machte in seiner kleinen, von rechts nach links geführten Schrift Aufzeichnungen, die nur für ihn bestimmt waren. In diesem Tagebuch redete er sich bemerkenswerterweise mit »du« an: »Lerne bei Meister Luca die Multiplikation der Wurzeln.« – »Laß dir vom Meister d’Abacco die Quadratur des Zirkels zeigen.« – Oder bei Anlaß einer Reise: »Ich gehe meiner Gartenangelegenheit wegen nach Mailand … Lasse zwei Tragsäcke machen. Lasse dir die Drechselbank von Boltraffio zeigen und einen Stein darauf bearbeiten. – Lasse das Buch dem Meister Andrea il Todesco.« Oder, ein Vorsatz von ganz anderer Bedeutung: »Du hast in deiner Abhandlung zu zeigen, daß die Erde ein Stern ist, wie der Mond oder ungefähr, und so den Adel unserer Welt zu erweisen.«

      In diesem Tagebuch, welches übrigens – wie die Tagebücher anderer Sterblicher – oft die bedeutsamsten Begebenheiten des Tages nur mit wenigen Worten streift oder völlig verschweigt, finden sich einige Eintragungen, die ihrer Sonderbarkeit wegen von allen Biographen Leonardos zitiert werden. Es sind Aufzeichnungen über kleine Ausgaben des Meisters von einer peinlichen Exaktheit, als sollten sie von einem philiströs gestrengen und sparsamen Hausvater herrühren, während die Nachweise über die Verwendung größerer Summen fehlen und nichts sonst dafür spricht, daß der Künstler sich auf Wirtschaft verstanden habe. Eine dieser Aufschreibungen betrifft einen neuen Mantel, den er dem Schüler Andrea Salaino gekauft:

      Silberbrokat

      15 Lire

      4 Soldi

      Roten Samt zum Besatz

      9 Lire

      – Soldi

      Schnüre

      – Lire

      9 Soldi

      Knöpfe

      – Lire

      12 Soldi

      Eine andere sehr ausführliche Notiz stellt alle die Ausgaben zusammen, die ihm ein anderer Schüler durch seine schlechten Eigenschaften und seine Neigung zum Diebstahl verursacht: »Am Tage 21 des April 1490 begann ich dieses Buch und begann wieder das Pferd. Jacomo kam zu mir am Magdalenentage tausend 490, im Alter von 10 Jahren. (Randbemerkung: diebisch, lügnerisch, eigensinnig, gefräßig.) Am zweiten Tage ließ ich ihm zwei Hemden schneiden, ein Paar Hosen und einen Wams, und als ich mir das Geld beiseite legte, um genannte Sachen zu bezahlen, stahl er mir das Geld aus der Geldtasche, und war es nie 129 möglich, ihn das beichten zu machen, obwohl ich davon eine wahre Sicherheit hatte (Randnote: 4 Lire …).« So geht der Bericht über die Missetaten des Kleinen weiter und schließt mit der Kostenrechnung: »Im ersten Jahr, ein Mantel, Lire 2; 6 Hemden, Lire 4; 3 Wämser, Lire 6; 4 Paar Strümpfe, Lire 7 usw.«

      Die Biographen Leonardos, denen nichts ferner liegt, als die Rätsel im Seelenleben ihres Helden aus seinen kleinen Schwächen und Eigenheiten ergründen zu wollen, pflegen an diese sonderbaren Verrechnungen eine Bemerkung anzuknüpfen, welche die Güte und Nachsicht des Meisters gegen seine Schüler betont. Sie vergessen daran, daß nicht Leonardos Benehmen, sondern die Tatsache, daß er uns diese Zeugnisse desselben hinterließ, einer Erklärung bedarf. Da man ihm unmöglich das Motiv zuschreiben kann, uns Belege für seine Gutmütigkeit in die Hände zu spielen, müssen wir die Annahme machen, daß ein anderes, affektives Motiv ihn zu diesen Niederschriften veranlaßt hat. Es ist nicht leicht zu erraten, welches, und wir würden keines anzugeben wissen, wenn nicht eine andere unter Leonardos Papieren gefundene Rechnung ein helles Licht auf diese seltsam kleinlichen Notizen über Schülerkleidungen u. dgl. würfe:

      »Auslagen nach dem Tode zum Begräbnis der Katharina

      27

      florins

      2 Pfund Wachs

      18

      “

      Für das Tragen und Aufrichten des Kreuzes

      12

      “

      Katafalk

      4

      “

      Leichenträger

      8

      “

      An 4 Geistliche und 4 Kleriker

      20

      “

      Glockenläuten

      2

      “

      Den Totengräbern

      16

      “

      Für die Genehmigung – den Beamten

      1

      “

      Summa

      108

      florins

      Frühere Auslagen:

      Dem Arzt

      4

      florins

      Für Zucker und Lichte

      12

      “

      16

      “

      Summa Summarum

      124

      florins.«

       Der Dichter Mereschkowski ist der einzige, der uns zu sagen weiß, wer diese Katharina war. Aus zwei anderen kurzen Notizen erschließt er, daß die Mutter Leonardos, die arme Bäuerin aus Vinci, im Jahre 1493 nach Mailand gekommen war, um ihren damals 41jährigen Sohn zu besuchen, daß sie dort erkrankte, von Leonardo im Spital untergebracht, und als sie starb, von ihm unter so ehrenvollem Aufwand zu Grabe gebracht worden sei.

      Erweisbar ist diese Deutung des seelenkundigen Romanschreibers nicht, aber sie kann auf so viel innere Wahrscheinlichkeit Anspruch machen, stimmt so gut zu allem, was wir sonst von Leonardos Gefühlsbetätigung wissen, daß ich mich nicht enthalten kann, sie als richtig anzuerkennen. Er