Название | Lange Schatten |
---|---|
Автор произведения | Louise Penny |
Жанр | Языкознание |
Серия | Ein Fall für Gamache |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783311701279 |
Wo lebt ein Mensch so seelenschwach,
Dass er noch niemals bei sich sprach:
»Das ist mein Land, mein Heimatland!«
So wie es sein eigener Vater getan hatte.
Geneviève.
»Und wenn es ein Junge wird«, fuhr Reine-Marie fort, »wollen sie ihn Honoré nennen.«
Schweigen. Schließlich sagte Gamache: »Aha«, und senkte den Blick.
»Das ist ein wunderschöner Name, Armand, und eine noch schönere Geste.«
Gamache nickte, sagte aber immer noch kein Wort. Er hatte sich schon manchmal gefragt, was er empfände, wenn dieser Fall eintreten sollte. Aus irgendeinem Grund hatte er damit gerechnet, vielleicht weil er seinen Sohn kannte. Sie waren sich so ähnlich. Groß und kräftig gebaut, sanftmütig. Und hatte er damals nicht selbst mit sich gerungen, ob er Daniel Honoré nennen sollte? Bis zum Tag der Taufe hatte er Honoré Daniel heißen sollen.
Aber dann hatte er es seinem Sohn doch nicht antun wollen. War das Leben nicht auch ohne einen Namen wie Honoré Gamache schon schwer genug?
»Er bittet dich, ihn anzurufen.«
Gamache sah auf seine Uhr. Fast zehn. »Ich melde mich morgen früh bei ihm.«
»Und was willst du ihm sagen?«
Gamache drückte die Hände seiner Frau und ließ sie wieder los, dann lächelte er sie an. »Wie wäre es mit Espresso und einem Glas Likör im Salon?«
Sie sah ihn fragend an. »Möchtest du dir nicht kurz die Beine vertreten? Ich werde mich um den Espresso kümmern.«
»Danke, meine Liebe.«
»Ich warte auf dich.«
»Wo lebt ein Mensch so seelenschwach«, murmelte Armand Gamache, während er langsam die Dunkelheit durchmaß. Der süße Duft des nächtlichen Gartens begleitete ihn und die Sterne, den Mond und das Licht von der anderen Seite des Sees. Von der Familie im Wald. Seiner Phantasiefamilie. Vater, Mutter und glückliche, gedeihende Kinder.
Kein Leid, kein Verlust, kein scharfes Klopfen abends an der Tür.
In diesem Moment ging das Licht am anderen Ufer aus, und alles war in völlige Dunkelheit getaucht. Die Familie hatte sich friedlich schlafen gelegt.
Honoré Gamache. War das wirklich so falsch? War es falsch, was er empfand? Was sollte er Daniel morgen früh sagen?
Er starrte ins Leere und dachte kurz nach, bis er bemerkte, dass sein Blick auf etwas Leuchtendem ruhte. Vor dem Wald. Er sah sich um, ob jemand in der Nähe war, ein weiterer Zeuge. Aber Terrasse und Garten lagen verwaist da.
Neugierig ging Gamache über das weiche Gras darauf zu. Er warf einen Blick zurück auf die fröhlich funkelnden Lichter des Manoir und die Leute, die sich durch die Zimmer bewegten. Dann drehte er sich wieder um.
Der Wald lag dunkel da. Aber nicht still. Tiere liefen darin herum, Zweige knackten, gelegentlich war ein leises Krachen zu hören, wenn etwas von den Bäumen zu Boden fiel. Gamache hatte keine Angst vor der Dunkelheit, aber wie die meisten phantasiebegabten Kanadier fürchtete er sich ein kleines bisschen vor dem Wald.
Aber das weiß leuchtende Ding dort rief nach ihm, und er fühlte sich unwiderstehlich davon angezogen, so wie Odysseus von den Sirenen.
Es stand direkt am Waldrand. Er ging darauf zu, überrascht, wie groß es war, ein gleichmäßiger Quader ähnlich einem riesigen Zuckerwürfel. Er reichte ihm bis zur Hüfte, und Gamache streckte die Hand aus, nur um sie sofort wieder zurückzuziehen. Die Oberfläche war kalt, fast klamm. Er streckte erneut die Hand aus, entschlossener dieses Mal, und ließ sie einen Moment auf dem Ding ruhen. Er lächelte.
Es war aus Marmor. Er hatte Angst vor einem Marmorblock gehabt, dachte er und musste über sich lachen. Wie peinlich. Gamache trat einen Schritt zurück und starrte ihn an. Der weiße Stein leuchtete, als hätte er das wenige Mondlicht, das auf ihn fiel, eingefangen. Es war nichts als ein Marmorblock, sagte er sich. Kein Bär, kein Puma. Nichts Beängstigendes, nichts, was irgendwie unheimlich war. Aber er fand es dennoch unheimlich. Es erinnerte ihn an etwas.
»Peters praller pinker Pickel platzt.«
Gamache erstarrte.
»Peters praller pinker Pickel platzt.«
Da war es wieder.
Er drehte sich um und sah eine Gestalt mitten auf dem Rasen. Sie war von einer durchsichtigen Nebelschwade umgeben, und unter ihrer Nase glühte ein roter Punkt.
Julia Martin war nach draußen gekommen, um heimlich eine Zigarette zu rauchen. Gamache räusperte sich laut und raschelte mit der Hand durch einen Busch. Sofort fiel der rote Punkt zu Boden und verschwand unter einem zierlichen Fuß.
»Guten Abend«, rief sie heiter, auch wenn Gamache bezweifelte, dass sie wusste, wem sie gegenüberstand.
»Guten Abend, Madame«, sagte Gamache mit einer kleinen Verbeugung, nachdem er zu ihr getreten war. Sie war schlank und trug ein elegantes Abendkleid. Ihre Haare waren frisch frisiert, und sie hatte sich geschminkt und die Nägel lackiert, obwohl sie doch hier in der Wildnis waren. Sie wedelte mit ihrer schlanken Hand vor ihrem Gesicht herum, um den beißenden Zigarettenrauch zu vertreiben.
»Mücken«, sagte sie. »Kriebelmücken. Das Einzige, was einem die Ostküste verleiden kann.«
»Gibt es im Westen keine Kriebelmücken?«, fragte er.
»In Vancouver nicht. Ein paar Pferdebremsen auf dem Golfplatz. Sie können einen allerdings in den Wahnsinn treiben.«
Das konnte sich Gamache gut vorstellen, nachdem er selbst einmal von Pferdebremsen verfolgt worden war.
»Zum Glück hält einem der Zigarettenrauch die Viecher vom Leib«, sagte er mit einem Lächeln. Sie zögerte, dann kicherte sie. Sie war ein umgänglicher Mensch und lachte oft und gerne. Vertraulich berührte sie seinen Arm, obwohl sie keineswegs auf vertrautem Fuße miteinander standen. Aber sie trat einem damit nicht zu nahe, es war reine Gewohnheit. Als er sie in den letzten Tagen beobachtet hatte, hatte er bemerkt, dass sie jeden anfasste. Und jeden anlächelte.
»Sie haben mich ertappt, Monsieur. Beim heimlichen Rauchen. Ist das nicht lächerlich?«
»Hätte Ihre Familie etwas dagegen?«
»In meinem Alter kümmere ich mich schon längst nicht mehr darum, was andere von mir denken.«
»Ist das wahr? Ich wünschte, bei mir wäre das auch so.«
»Na ja, vielleicht kümmert es mich ein bisschen«, gab sie zu. »Ich war länger nicht mehr mit meiner Familie zusammen.« Als sie sich zum Manoir wandte, folgte er ihrem Blick. Drinnen beugte sich Thomas gerade zu seiner Mutter und sagte etwas zu ihr, während Sandra und Mariana zusahen, schweigend und ohne zu bemerken, dass sie beobachtet wurden.
»Als die Einladung eintraf, wollte ich zuerst eigentlich nicht kommen. Dieses Familientreffen findet einmal im Jahr statt, müssen Sie wissen, aber ich habe mich bisher immer davor gedrückt. Es ist so weit von Vancouver.«
Sie konnte die Einladung noch vor sich sehen, wie sie mit der Anschrift nach oben auf dem polierten Parkett in ihrer Eingangshalle lag und aussah, als sei sie aus großer Höhe heruntergefallen. Sie kannte dieses Gefühl. Sie hatte den dicken weißen Umschlag mit der allzu bekannten krakeligen Handschrift angestarrt. Es war ein Willenskampf. Aber sie wusste, wer gewinnen würde. Wer immer gewann.
»Ich