Название | "Ich habe neun Leben gelebt" |
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Автор произведения | Joseph Melzer |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783864898211 |
Alles in allem hatte ich dennoch eine glückliche Kindheit. Ich musste seit meinem dritten Lebensjahr im »Cheder« hebräisch lesen und beten und schließlich die Bibel übersetzen lernen. Cheder nannte man den Raum, der gewöhnlich von einem bettelarmen Lehrer bewohnt wurde und in dem der Unterricht abgehalten wurde, in dem aber auch seine Frau und seine zahlreichen Kinder lebten, aßen und schliefen. Aber es gab auch reichlich Gelegenheiten, mit Gleichaltrigen zu spielen, im Sommer im Tscheremosch zu baden und im Winter Schneeballschlachten zu veranstalten. Es war eine heile Welt – und für uns Kinder ein Paradies. Wir kannten keine unmittelbare Feindseligkeit gegenüber uns Juden, denn alle Religionen im Schtetl pflegten gute Beziehungen zueinander.
Mein bester Freund hieß Schalom, und sein Vater war Fuhrmann. Ein Fuhrmann ist aber den ganzen Tag unterwegs und verdient dabei wenig Geld. Pinchas aber, Schaloms Vater, wollte bei seinem kleinen Sohn bleiben. Er ließ also den Wagen Wagen sein und siedelte nach Kuty über. Über Nacht wurde aus ihm ein Schneider. Nun war aber in Kuty bereits jeder achte Jude Schneider. Und sich schön herauszustaffieren war nicht die Sache der Juden. Beim Feiertagskaftan handelte es sich meist um ein Erbstück, das vom Vater auf den Sohn bis ins dritte und vierte Geschlecht weitergegeben wurde. Wenn der Wochenkaftan etwas zerfranst war, so machte das auch dem Reichsten nichts aus. Arbeit gab es wenig und Geld noch weniger. Die Eltern meines Freundes Schalom waren arm. Sie hatten nicht einmal das Geld für einen Lehrer, der das Söhnchen Gottes Wort hätte lehren können. Zum Glück erlaubte aber mein Großvater, dass Schalom zusammen mit mir in den Cheder ging, und zahlte dafür das Schulgeld. So lernten wir beide gemeinsam die Thora und übten das Hebräische. Alphabet: Aleph, Beth, Gimel, Daleth und so weiter.
Kuty war wie Hunderte anderer Städtchen, in denen bis 1942 die jüdische Bevölkerung Galiziens, Russisch-Polens, Litauens, Weißrusslands und der Ukraine auf engstem Raum zusammengepfercht lebte. Am Rande der Stadt floss langsam und ruhig der Tscheremosch. Dieser Fluss kennzeichnete die Landesgrenze zwischen Galizien und der Bukowina. Es war keine Reichsgrenze, sondern nur eine offene Landesgrenze. Die nächstgelegene Stadt in der Bukowina, auf der gegenüberliegenden Seite des Tscheremosch, hieß, wie gesagt, Wischnitz. Sie war der Sitz des berühmten Wischnitzer Rebben Chaim Meir Hager und bis zu ihrem Wegzug nach Wien der Wohnort meiner Tante, der Schwester meiner Mutter.
Die Bukowina mit ihrer Hauptstadt Czernowitz war die östlichste deutsche Provinz mit einer deutschsprachigen Universität, mehreren deutschen Tageszeitungen sowie einem deutschen Theater. Mit der Vernichtung der Juden ist auch diese deutsche Kulturstätte untergegangen. Besonders die deutschen Verleger spürten das, denen ein großer Buchmarkt verloren ging, denn es gab kein jüdisches Haus östlich von Wien, in dem nicht die deutschen Klassiker fein geordnet im Bücherregal standen. Von Kuty in nördlicher Richtung lag die Stadt Zablotow, was »hinter den Pfützen« bedeutet. Dort wurde der deutsch-jüdische Schriftsteller Manès Sperber geboren, dort wohnte auch eine andere Schwester meiner Mutter, die einen reichen Juden geheiratet hatte, der Gutherz hieß.
Wie ich bereits erwähnt hatte, war mein Vater als Buchhalter bei dem deutschen Mühlenbesitzer Hermann Jäckel beschäftigt. Eigentlich wollte Großvater, dass er Kaufmann wird. Er beschloss, ihn in die kaufmännische Lehre zu Onkel Schmuel nach Czernowitz zu schicken, der dort eine große Tuchhandlung besaß. So fuhr er mit ihm eines Tages mit dem Pferdefuhrwerk bis zur Eisenbahnstation und von dort mit der Eisenbahn in die »Großstadt« Czernowitz. Beim Onkel angekommen, nahm dieser sofort meinen Vater zur Seite und fragte ihn:
»Was machst du, wenn eine Bäuerin kommt und rotes Tuch haben will und du hast aber nur blaues?«
Mein Vater soll äußerst verlegen geguckt und gestottert haben:
»Ich bestelle für sie rotes Tuch.«
»Taugt nicht, taugt nicht«, schrie der Onkel verzweifelt. »Was heißt schon, sie will rotes Tuch? Sie ist Bäuerin, sie hat nichts zu wollen, und du musst ihr verkaufen, was du hast, und nicht, was sie will.«
Damit endete die Karriere meines Vaters als Kaufmann, noch bevor sie begonnen hatte. Enttäuscht, aber erleichtert kam er nach Kuty zurück. Er wollte kein Kaufmann, sondern Schriftsteller werden. Schon früh hatte er sich von der jüdischen Tradition gelöst, lebte schon im Schtetl als »Freigeist« und nahm, wenn er zum Gebet in die Synagoge ging, immer irgendeinen deutschen Klassiker mit, den er unter seinem Gebetbuch versteckt hatte. Während alle anderen inbrünstig beteten, las er Goethes Faust und Schillers Räuber oder Kleist und Heine. Oh, Heine, den mochte er ganz besonders. Er pflegte, seine Gedichte auswendig zu lernen, verschlang seine Reisebeschreibungen und träumte davon, diese Reisen eines Tages selbst zu machen. Er war aber auch ein profunder Kenner der rabbinischen Literatur, des Talmuds und der Kabbala, und auch das Buch Zohar stand später in seinem Bücherregal neben den deutschen Klassikern. Nicht zuletzt deswegen respektierte und mochte ihn der Vater meiner Mutter, Großvater Abraham Stein, und das war auch der Grund, warum er ihm seine Tochter zur Frau gab.
Mein Vater war ein sehr strenger und jähzorniger Mann. Bis zu seiner Heirat lernte er in der »Jeschiwa«, wie man die Hochschulen für Talmudschüler nannte, und war von seinen Eltern als Rabbiner auserkoren. Nach dem Tod seines Vaters rasierte er sich seinen Bart ab, entledigte sich seiner Schläfenlocken, stutzte seinen Kaftan zu einem kurzen Jackett und wurde ein »Abtrünniger«. Er besuchte keine staatliche Schule und eignete sich autodidaktisch ein respektables Wissen an. So eignete er sich zum Beispiel die Buchführung aus einem gewöhnlichen Rechenbuch an.
Später in Berlin war er bei privaten Unternehmen beschäftigt, und seine Bilanzen waren beim Finanzamt als einwandfrei anerkannt. Seine Korrektheit war sprichwörtlich in jeder Beziehung. Er kam pünktlich um 13 Uhr zu Mittag und wehe, wenn das Mittagessen nicht zur Stelle war. Dann verließ er wortlos das Haus, was für meine Mutter die schlimmste Strafe bedeutete. Auch die Kinder mussten parieren und Knetmasse in seinen Händen sein. Als Ältester hatte ich am meisten darunter zu leiden. Es hagelte Schläge für jede Unartigkeit, beziehungsweise das, was Erwachsene darunter verstanden. Mein Vater führte ein Notizbuch über meine »Verfehlungen«, und wenn das Maß voll war, wurde die Weidengerte hervorgeholt, meine Hosen heruntergelassen, und auf den nackten Popo bekam ich die Schläge zugezählt, die mir nach seinen Berechnungen zustanden. Es ging nicht ohne dramatische Höhenpunkte ab: Ich schrie, weil es weh tat, wie ein zum Abstechen gezerrtes Schwein. Meine liebe Mutter konnte dieser Schlägerei nicht zusehen und entfloh zu ihren alten Eltern, bei denen sie wohnen blieb, bis sie und mein Vater sich wieder versöhnten.
In seinem Bücherschrank standen nicht nur die deutschen Klassiker in der bekannten populären und preiswerten Ausgabe des Verlages Bong & Co. Mein Vater war auch in der modernen hebräischen Literatur bewandert. Er gehörte zu jenen unglücklichen ostjüdischen Menschen, die zwischen zwei Welten hin- und hergerissen waren, von der einen ausgestoßen, von der anderen nicht aufgenommen. Sein Deutsch war so perfekt und schön, dass mein Lehrer in der Volksschule in Berlin, als er einen Entschuldigungsbrief meines Vaters gelesen hatte, mich fragte, wo mein Vater studiert habe. Er starb im Jahre 1929 in Berlin, wo er im Jüdischen Friedhof in Weißensee seine letzte Ruhestätte fand. Zu seinem Glück hat er den Untergang der deutschen Kultur und die Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht mehr erleben müssen. Auch mit dem Sterben muss man Glück haben.
Ich war als Kind der Obhut meiner Großeltern anvertraut und fand bis zu meinem sechsten Lebensjahr bei ihnen ein Zuhause. Mit drei Jahren wurde ich von einem »Behelfer«, unserem Hausknecht, zum Cheder gebracht, wo den Kindern vom Rebben Mejer, der Rojter die Thora und Hebräisch beigebracht werden sollte. Der »Behelfer« trug mich auf seinen Schultern, und da er ein großer Goi war, thronte ich hoch über allen und genoss es, in den Cheder gebracht zu werden. Mein Freund Schalom lief uns hinterher.
Der »Behelfer« hieß Karl und war Pole. Er verstand aber auch Jiddisch. Eigentlich war er mein bester Freund. Er machte jeden Unsinn mit, um mich zu erheitern und bei Laune zu halten. Donnerstags, wenn Markttag war und wir vom