Название | Radetzkymarsch |
---|---|
Автор произведения | Йозеф Рот |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788726539332 |
Er warf einen geheimen Blick nach der Uhr, es war erst halb elf. Anderthalb Stunden ging noch die Prüfung. Es konnte dem Alten einfallen, Geschichte des Altertums zu prüfen oder germanische Mythologie. Er ging rauchend durchs Zimmer, die Linke am Rücken. An der Rechten klapperte die Manschette. Immer stärker wurden die Sonnenstreifen auf dem Teppich, immer näher rückten sie zum Fenster. Die Sonne mußte schon hoch stehen. Die Kirchenglocken begannen zu dröhnen, ganz nahe schlugen sie ins Zimmer, als schaukelten sie knapp hinter den dichten Jalousien. Der Alte prüfte heute lediglich Literatur. Er sprach sich ausführlich über die Bedeutung Grillparzers aus und empfahl dem Sohn als «leichte Lektüre» für Ferientage Adalbert Stifter und Ferdinand von Saar. Dann sprang er wieder auf militärische Themen, Wachdienst, Dienstreglement Zweiter Teil, Zusammensetzung eines Armeekorps, Kriegsstärke der Regimenter. Plötzlich fragte er: «Was ist Subordination?» «Subordination ist die Pflicht des unbedingten Gehorsams», deklamierte Carl Joseph, «welchen jeder Untergebene seinem Vorgesetzten und jeder Niedere . . .» «Halt!» unterbrach ihn der Vater und verbesserte: «. . . sowie auch jeder Niedere dem Höheren» — und Carl Joseph fuhr fort: «zu leisten schuldig ist, wenn. . .», «sobald», korrigierte der Alte, . . . «sobald diese die Befehlsgebung ergreifen.» Carl Joseph atmete auf. Es schlug zwölf.
Jetzt erst begannen die Ferien. Noch eine Viertelstunde, und er hörte von der Kaserne her den ersten ratternden Trommelwirbel der ausrückenden Musik. Jeden Sonntag spielte sie um die Mittagszeit vor dem Amtshaus des Bezirkshauptmanns, der in diesem Städtchen keinen Geringeren vertrat als Seine Majestät den Kaiser. Carl Joseph stand verborgen hinter dem dichten Weinlaub des Balkons und nahm das Spiel der Militärkapelle wie eine Huldigung entgegen. Er fühlte sich ein wenig den Habsburgern verwandt, deren Macht sein Vater hier repräsentierte und verteidigte und für die er einmal selbst ausziehen sollte, in den Krieg und in den Tod. Er kannte die Namen aller Mitglieder des Allerhöchsten Hauses. Er liebte sie alle aufrichtig, mit einem kindlich ergebenen Herzen, vor allen andern den Kaiser, der gütig war und groß, erhaben und gerecht, unendlich fern und sehr nahe und den Offizieren der Armee besonders zugetan. Am besten starb man für ihn bei Militärmusik, am leichtesten beim Radetzkymarsch. Die flinken Kugeln pfiffen im Takt um den Kopf Carl Josephs, sein blanker Säbel blitzte, und, Herz und Hirn erfüllt von der holden Hurtigkeit des Marsches, sank er hin in den trommelnden Rausch der Musik, und sein Blut sickerte in einem dunkelroten und schmalen Streifen auf das gleißende Gold der Trompeten, das tiefe Schwarz der Pauken und das siegreiche Silber der Tschinellen.
Jacques stand hinter seinem Rücken und räusperte sich. Das Mittagessen begann also. Wenn die Musik eine Pause machte, hörte man, ein leises Tellerklirren aus dem Speisezimmer. Es lag durch zwei weite Räume vom Balkon getrennt, genau in der Mitte des ersten Stockwerks. Während des Essens klang die Musik fern, aber deutlich. Leider spielte sie nicht jeden Tag. Sie war gut und nützlich, sie umrankte die feierliche Zeremonie des Essens mild und versöhnend und ließ keins der peinlichen, kurzen und harten Gespräche aufkommen, die der Vater so oft anzubrechen liebte. Man konnte schweigen, zuhören und genießen. Die Teller hatten schmale verblassende blaugoldene Streifen. Carl Joseph liebte sie. Oft im Laufe des Jahres gedachte er ihrer. Sie und der Radetzkymarsch und das Wandbildnis der verstorbenen Mutter (an die sich der Junge nicht mehr erinnerte) und der schwere silberne Schöpflöffel und die Fischterrine und die Obstmesser mit den gezackten Rücken und die winzigen Kaffeetäßchen und die gebrechlichen Löffelchen, die dünn waren wie dünne Silbermünzen: all das zusammen bedeutete: Sommer, Freiheit, Heimat.
Er gab Jacques Überschwung, Mütze und Handschuhe und ging ins Speisezimmer. Der Alte betrat es zu gleicher Zeit und lächelte dem Sohn zu. Fräulein Hirschwitz, die Hausdame, kam eine Weile später, im sonntäglich Grauseidenen, mit erhobenem Haupt, den schweren Haarknoten im Nacken, eine mächtige krumme Spange quer über der Brust, wie eine Art Tatarensäbel. Gewappnet und gepanzert sah sie aus. Carl Joseph hauchte einen Kuß auf ihre lange harte Hand. Jacques rückte die Sessel. Der Bezirkshauptmann gab das Zeichen zum Niedersitzen. Jacques verschwand und trat nach einer Weile wieder mit weißen Handschuhen ein, die ihn völlig zu verändern schienen. Sie strömten einen schneeigen Glanz über sein ohnehin schon weißes Gesicht, seinen ohnehin schon weißen Backenbart, seine ohnehin weißen Haare. Aber sie übertrafen ja auch an Helligkeit wohl alles, was in dieser Welt hell genannt werden konnte. Mit diesen Handschuhen hielt er ein dunkles Tablett. Darauf stand die dampfende Suppenterrine. Bald hatte er sie in der Mitte des Tisches hingesetzt, sorgfältig, lautlos und sehr schnell. Nach alter Gewohnheit verteilte Fräulein Hirschwitz die Suppe. Man kam den Tellern, die sie hinhielt, mit gastfreundlich ausgestreckten Armen entgegen und mit einem dankbaren Lächeln in den Augen. Sie lächelte wieder. Ein warmer goldener Schimmer wallte in den Tellern; es war die Suppe: Nudelsuppe. Durchsichtig, mit goldgelben, kleinen, verschlungenen, zarten Nudeln. Herr von Trotta und Sipolje aß sehr schnell,, manchmal grimmig. Es war, als vernichtete er mit